St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 990
Mengis Simone, Schreibende Frauen um 1500. Scriptorium und Bibliothek des Dominikanerklosters St. Katharina St. Gallen (Scrinium Friburgense 28), Berlin 2013, S. 337-341.
Handschriftentitel: [Sammelband aszetischen Inhalts]
Entstehungszeit: 1521 Juni 11/1522
Beschreibstoff: Papier. WZ:
- 1. Bär mit heraushängender Zunge, Senkrücken, Stummelschwanz, gut sichtbar p. 79 (leeres folium), ders. Bär p. 18, ähnlich Piccard, Wasserzeichen XV/2 (1987), Abt. I, Nr. 439f. (Kopfform variiert) (Solothurn, Zürich, Zug, 1513; Ansbach, Tuttlingen, 1514; vgl. auch Briquet, Filigranes IV (1907), Nr. 12268 (Bern, 1513).
- 2. Traube p. 53, klein- und engbeerig, nie ganz sichtbar: vgl. Piccard, Wasserzeichen XIV/I (1983), Nr. 643 (Schwyz, 1447); ferner ähnlich Briquet, Filigranes IV (1907), Nr. 13048 (Kirchberg, 1444; Schwyz, 1452).
Umfang:
589 Seiten
Format: 30,5 × 21/21,5 cm
Seitennummerierung: Tintenpaginierung I.v.A., springt 391/93, danach die Geraden rechts. Keine Vorsätze.
Lagenstruktur: VIII79-108, V109-128, VII129-156, V 157-176, VII177-204, II205-218, VIII219-250, IV251-266, VIII267-299, III300-311, (VIII–1)312-341, V342-361, VII362-389, (VI–1)390-409, VII410-437, V428-457, VII458-485, (V+1)486-507, (V+1)508-529 (Lage hängt nur noch lose an einem Faden), p. 530/531 ein folium unklarer Zuordnung, do. p. 532/533, (V+1)534-555, p. 556-573 unklar, letzte Lage II582-589. Die unregelmässigste Lagenformel in Handschriften des Katharinen-Scriptoriums (was der sehr sorgfältigen Ausführung der Abschrift widerspricht). Bunter Wechsel von Binio, Tern-, Quint-, Sext-, Sept- und Okternionen; einzelne Lagen zudem in sich unregelmässig, da unvollständig, daher nicht klar bestimmbar. Die Usanzen der Blütezeit des Scriptoriums waren
offenbar vollständig ausser Gebrauch geraten.
Zustand: Der Band teilweise stark beschnitten, z. B. p. 454 am oberen Blattrand die Rubrik, p. 542/543.
Seiteneinrichtung:
Zweispaltig 22/22,5 × 6,5/7 cm, 31–36 Zeilen (Elisabeth Schaigenwiler), Schriftspiegel braune Tinte, schlichte 2–3-zeilige rote Lombarden, p. 527a-528b (Elisabeth Schaigenwiler) bei den J-Lombarden verschnörkelte Verzierungen.
Schrift und Hände:
- 1. p. 3a-200a von der Hand der Regina Sattler (mit fremden Einschüben, s. u.): kräftige, halbkursive Bastarda mit eher runden, nur passim und andeutungsweise gebrochenen Buchstabenformen (u, a, i), brezelförmiges finalis-s; sehr charakteristisch die g mit oberhalb des Bauches ansetzender Unterschlaufe, welche bis zum Bauch heraufgezogen ist (sogar über die imaginäre Linie), schräge Haarstriche statt i-Punkte. Kolophon p. 200a: Est finis Laus deo Mille deo gratias Anno domini xᵛ xxij S.[oror] R.[egina] S.[attler] Orate pro me; CMD−CH III (1991), Abb. 589a und b. Datierung p. 75b: Durch doctor wendelinum von phorczen geprediget. Laus deo mille. Deo Gratias. Scripsit m ccccc vnd xxj jar 〈xvᶜ xxj〉 [am Rand]. Est finis jn die barnabe apostoli. war gemäss der Rubrik p. 201a Beichtvater und Lesemeister (p. 3a) des Dominikanerinnenklosters Zoffingen in Konstanz, vgl. auch das Incipit p. 3a: Das ewig hail allen lesenden dissen Tractat wuensch ich vff [?, Verschrieb ab der Vorlage (=Autograph Fabris?)] Wendelinus von phorczen prediger ordens Lesmaister der goetlichen geschrifft.
- p. 201a-314b von der Hand der Dorothea von Hertenstein, in fortlaufendem Wechsel mit Elisabeth Schaigenwiler (nicht verzeichnet im CMD und bei Höpf, Fabri [1951], s. u.); p. 314b: Deo Gratias Bittend got fuͤr mich boͤsse Schriber〈in〉 [radiert] S.[chwester] Dorothea von hertenstein, siehe Abb. 19; CMD−CH (1991), Abb. 590. Klare, kräftige Bastarda fast ohne kursive Elemente, mit aufrechten, runden, einfachen Buchstabenformen ohne Schlaufen und Schnörkel, kleine ›Fähnchen‹ an den Schäften der unzialen d, der l, b und k, brezelförmiges finalis-s.
- p. 316a-589a von der kalligraphisch sehr qualifizierten Hand (singulär im Katharinen-Scriptorium) der Elisabeth Schaigenwiler (nicht subskribiert, gemäss KlA Wil, Chronik, f. 166v, s. o.): buchschriftnahe Bastarda auf hohem Niveau, sehr diszipliniert und formbetont, offensichtlich routiniert, Duktus aufrecht, enge Buchstabenabstände, keine Oberschlaufen; Buchstabenformen generell etwas ›scharfkantig‹, g mit zurückgenommener Unterlänge, Schlaufen-Abstrich nach oben und rechts verlängert, do. die h-Abwärtsschlaufe kaum ausgeprägt, do. die Unterschlaufe der z; rundes und kursives r, neben langem s rundes finalis-s, spitzes a mit kleinem ›Sattel‹, rundes, tief auf die Linie heruntergezogenes e, mit kleiner Einbuchtung rechts; n und m mit quadrangel-ähnlichen Füsschen, statt i-Punkten feine Haarstriche, Neigung zu Häkchen an den Schäften der b, d, h, k und l, passim häufiger, z. B. p. 575. Siehe Abb. 20; CMD−CH III (1991), Nr. 241, Abb. 591, ohne Identifikation der Hand (in Unkenntnis der zitierten Chronik-Stelle), mit der Vermutung, „die anschliessende kalligraphisch sehr qualifizierte Hand“ der nicht subskribierten Partie p. 316a-589a sei möglicherweise ebenfalls Dorothea von Hertenstein zuzuweisen.
- Neben den beiden subskribierenden Schreiberinnen und Elisabeth Schaigenwiler Einschübe einer (nicht namentlich identifizierten) Katharinen-Hand in halbkursiver Bastarda: p. 32b (7. Zeile von unten, zwei letzte Wörter) bis p. 33b kleiner und mit schmalerem Kiel, p. 62a (in der 10. Zeile nach dem 2.Wort) bis p. 62b (13. Zeile von oben), p. 130a, p. 131a (4. Zeile von oben bis 13. Zeile von unten), p. 210a (mitten im Teil der Elisabeth Schaigenwiler, nicht verzeichnet im CMD−CH III [1991]); charakteristisch für diese schwungvolle Hand das kursive d (neben der unzialen Form) mit (im Verhältnis zum Bauch) recht grosser, nach links geneigter Oberschlaufe, ähnlich bei h, b und l, mit nach rechts geneigten Oberschlaufen. Die Einschübe erfolgen jeweils mitten im laufenden Text und Satz, vgl. besonders f. 62a: […] doch verzicht es nit die súnd die in der conscientz sind dz ist die súnd in der der mensch ainen lust vnd willen noch hat vnd die nit lassen will […] (normal: Hand Regina Sattler, fett: Nebenhand). Schriftvergleiche mit bekannten Katharinen-Händen ergaben keine Übereinstimmung mit dieser Einschubshand. (Anmerkung: Die « Schriftzüge von 7 anderen Schwestern » bei Höpf, Fabri (1951), S. 19, Anm. 181 (mit Stellenangabe) sind ein Irrtum: die Einschübe stammen alle von derselben Hand (s. o.).)
Spätere Ergänzungen: p. 586a Korrekturen in margine von ders. Hand des 17. Jhs. wie in Cod. sang. 1788. p. 361b-365a Bibelstellen und Nummerierung von Hand des 17. Jhs.
Einband:
Einband helles Leder auf Holz; Streicheisenlinien, die einen vierfachen Rahmen bilden: Im äusseren Rahmen Flechtband, im zweiten in frauenfigürlicher Darstellung die Tugenden fides, spes, carita[s], fortit[udo]. Leder-Messing-Schliesse (vermutlich original) erhalten; Schutzecken VD und HD aus Pergament-Fragmenten (liturgisch, Textualis, mit Notation). (Anmerkung: Höpf, Fabri (1951), S. 19, Anm. 183:
« Dr. Bischof in München hält den heutigen Einband für ursprünglich (mündliche Mitteilung vom 20. Sept. 1948) ». Zur Handschrift allgemein: ders. ebd., Kap. IV, S. 18–20; zum Inhalt S. 20–26.)
Inhaltsangabe:
-
p. 3a-589a
Traktate
(Anmerkung: Höpf, Fabri (1951), S. 8–18, zum Spiritual in Zoffingen S. 11f. Zu Fabri auch VL² 2 (1980), Art. ›Wendelin Fabri‹ (Kurt Hannemann), Sp. 698–670 (Lit.), zur Handschrift Sp. 669; Höpf, Fabri (1951), S. 26–29. – Unsere Handschrift ist, gemäss Höpf, Fabri (1951), S. 18, « bis heute die einzige Quelle geblieben, die uns die geistlichen Werke des [Wendelin Fabri] übermittelt ».) (* um 1465, um 1485 Eintritt in den Predigerorden, † nach 1533) war 1508 Lektor in Pforzheim, 1509 Spiritual des Frauenklosters Zoffingen Konstanz. Im Jahr 1512 wurde das Katharinen-Kloster von Fabri visitiert; 1511/12 erlangte er in Rom die Doktorwürde; seit 1527 im Meersburger Exil; seit 1528 Besitzer der Pfründe von Allerheiligen auf dem Gehrenberg bei Markdorf. Zur Biographie des Wendelin Fabri- (p. 3a-70a) Tractat von dem sacrament des fronlichnams (Anmerkung: Überarbeitung einer Reihe von eucharistischen Predigten, in 16 Kapiteln.)
- (p. 70a-75b) Predigt über die fünf Gerstenbrote der Ordensleute.
- (p. 76a-82b) leer.
- (p. 83a-200a) Tractat von der mess: Die ›Früchte der mess‹.
- (p. 201a-314b) Villicatorius (Anmerkung: Allegorie einer ›geistlichen Meierei‹, als Einführung in das asketische Leben: emblematische Übertragung des Landbaus auf das geistliche Leben.) >DEr [sic] gaistlichen materi genampt villicatorius des Erwirdigen hochgelerten heren vnd vatters wendelinus fabri der goͤtlichen schriff ain bewerter doctor vß dem Conuent pfortzhaim hatt dise nach folgent materÿ geprediget vnd hat es selbs vff geschriben ze constantz in dem closter zuͦ zoffingen der bicht vatter er do zemal was< … (p. 314b) … Damit endet sich villicos [sic] im ersten taill (Anmerkung: D. h.: ein 2. Teil in Aussicht gestellt, von dem jedoch jede Spur fehlt. Höpf Fabri (1951), S. 26 wagt die These, Fabri sei von seinem Plan eines 2. Teils abgekommen; an dessen Stelle sei das Sammelwerk ›Prudentia simplex religiosorum‹ getreten.)
- (p. 315ab) leer
-
(p. 316a-533b)
>Prudentia simplex religiosorum<
(Anmerkung: In vier Traktate gegliederte geistliche Übungen für Religiosen.)
- (p. 316a-385a) Tractatus von der schlechten ainfaltigen wißhait: Ordinarius vitae religiosae (=1. Traktat)
- (p. 385a-449b) Von den Übungen der Geistlichen >Exercitatorius religiosorum< (=2. Traktat)
- (p. 450a-496b) Von den uͤbungen des tags >Diurnale exercitiorum/Tractaͤtli Diurnale< (=3. Traktat)
- (p. 497a-533b) Von den uͤbungen der nacht >Nocturnale exercitiorum< (=4. Traktat).
- (p. 534a-589a) Collationes: Über die 7 O [i. e.: O-Antiphonen] vor winacht [christologische Auslegung]. (Anmerkung: In allegorischer Einkleidung entwickelt Fabri fünf Grundsätze über das Leben der Abtötung in Frauenklöstern; die Collationes, „Musterstück seiner geistlichen Beredtsamkeit“ (Höpf, Fabri [1951], S. 25), bewahren stärker als die übrigen Schriften Fabris die Form und Eigenart seiner Predigt. Zum Inhalt vgl. die Übersicht bei Höpf, Fabri (1951), S. 18 sowie S. 20–26, zu den Stoffquellen S. 26–29.)
Entstehung der Handschrift: Zur Handschrift KlA Wil, Chronik, f. 166v, von der Hand der Priorin Sapientia Wirt, zum Jahr 1521: Jtem in disem jar hand wir ablon schriben gar húbsche nutzliche matere [sic] von dem hailgen wirdigen sacrament vnd von der hailgen mess vnd sust gar nutzi guͦti ler von haltung vnd lob gaistlichs lebens das alles geprediget vnd mit siner hand geschriben der erwirdig hochgelert her vnd vater doctor wendelinus fabri der zit er bicht vater wz zuͦ zoffnigen [sic] in constantz vnd dis buͦch hand abgeschriben Sʳ regina satlerin [sic] vnd Sʳ dorate von hertenstain vnd Sʳ elsbet schaigenwillerin [sic] ist ain groß húbsch buͦch in briter gebunden. – arbeitete seine Zoffinger Klosterpredigten in den Jahren 1510 bis 1518 für die klösterliche Tischlesung aus.
Provenienz der Handschrift: Besitzeintrag Spiegelblatt vorne: Behört zu St. Catharina kloster vor Weil, von der bekannten Hand der Wiler Einträge (16./2 Jh.). Zuweisung an das Katharinen-Kloster aufgrund des obigen Chronik-Eintrags sowie aufgrund der Schreiberinnen. (Anmerkung: Der zitierte Besitzeintrag bei Vogler, St. Katharina (1938), S. 246, Nr. 60 (ohne die zitierte Chronik-Stelle) sowie bei Höpf, Fabri (1951), S. 19 (beide mit Lesefehlern).)
Zur Handschrift und zu den Schreiberinnen:
- Scherrer, Verzeichnis (1875), S. 376: »Den Nonnen zu S. Kathrinen in Wyl gehörig«;
- Vogler, St. Katharina (1938), S. 246, Nr. 60, nennt als dritte Hand Elisabeth Schaigenwiler;
- dies. ebd., S. 118, S. 183 (Dorothea von Hertenstein);
- dies. ebd., S. 32, S. 276 (Regina Sattler);
- CMD−CH III (1991), Nr. 241, Abb. 589a und b (Regina Sattler), Abb. 590, Abb. 591 (Dorothea von Hertenstein), Schreiberverzeichnis S. 295 (Dorothea von Hertenstein), S. 309 (Regina Sattler).