Utopia, armarium codicum bibliophilorum, Cod. 107
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Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge IV, 32 illuminierte Manuskripte aus Frankreich vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, beschrieben von Eberhard König, Ina Nettekoven und Heribert Tenschert, Ramsen Antiquariat Heribert Tenschert 2007, S. 93-100.

Handschriftentitel: Psalterium mit Kalender, Litanei und Toten-Offizium.
Entstehungsort: Paris
Entstehungszeit: 1390/1405
Katalognummer: 7
Beschreibstoff: Pergament
Umfang: 152 Blatt Pergament; dazu Papiervorsätze.
Format: Groß-Oktav (200 x 143 mm)
Lagenstruktur: Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die erste Lage 1 (8-2 - die leeren Anfangsblätter entfernt) sowie die Lage 17 (4) und die Endlage 20 (8-2 - die leeren Endblätter entfernt). Horizontale Reklamanten in derselben Schrift, Größe und Tinte wie der Text; Spuren von Signaturen für die Blätter rechts unten auf Recto-Seiten.
Zustand: Der Textblock in weitgehend vorzüglichem Zustand; die KL im Kalender abgerieben und teilweise übermalt; vier Blattecken in neuerer Zeit ergänzt. Bis auf die leeren Blätter an Anfang und Ende vollständig.
Seiteneinrichtung: In zwei Kolumnen zu 22 Zeilen, in dunkelbrauner Tinte regliert.Textspiegel: 137 x 97 mm.
Schrift und Hände: Textura in zwei Schriftgrößen, im Psalter selbst ist auf Rubriken verzichtet worden. Im Toten-Offizium kommen sie vor; dieser Textteil ist auch auffällig emendiert worden, mit zierlichen Ergänzungen am Rand auf fol. 139v[138v].
Buchschmuck: Neun spaltenbreite Miniaturen über vierzeiligen Dornblatt-Initialen, mit Zierstäben und Dornblatt-Ranken auf allen vier Randstreifen, zuweilen Zierstab in der Mitte; drei solche Seiten mit farbigem Blattwerk in Vorformen des erst ab 1408 in Paris nachzuweisenden Akanthus; Psalmenanfänge und ähnliche Texte mit zweizeiligen, Psalmenverse und ähnliche Texte mit einzeiligen Goldbuchstaben auf roten und blauen Feldern; mit zahlreichen Dornblatt-Ranken. Versalien nicht behandelt.
  • Schriftdekor

    Die Aufteilung der Seite in zwei Spalten ist altertümlich, kommt aber in ein paar hervorragenden Stundenbüchern des frühen 15. Jahrhunderts noch vor, so in den Belles Heures des Herzogs von Berry (New York, Cloisters) und im Stundenbuch des Königs René (London, BL, Egerton 1070).

    Die Ranken gehören zu einer Familie von Dornblattschmuck, der den neuen Entwicklungen in Paris vorausgeht, wie sie sich in mehreren Handschriften aus den Jahren 1408/09 fassen lassen: Anders als in den Belles Heures der Brüder Limburg erreicht das Dornblatt keine teppichhafte Flächigkeit; der Akanthus, der sich auf fol. 7, 23 und 91 ankündigt, gehört nicht zu dem, was man 1408 im Stundenbuch Douce 144 der Bodleian Library vorfindet.

    Die Bildränder sind recht fortschrittlich mit ihrem einfachen Doppelstab; sie verbinden sich mit den Grundfeldern der vierzeiligen Initialen, die ihrerseits wiederum in die Zierleisten münden, die durchweg schlank ausfallen. In die Zeit um 1400 fügt sich der Umstand, daß das Blattwerk der Ranken noch vorwiegend aus farbigen Wein- oder Efeublättern besteht, die aus farbig gefüllten Spiralranken sprießen (vgl. hier Nr. 9).

  • Die Bildfolge

    Zu den Psalterteilungen Bilder, die in einer alten Tradition der Psalterillustration stehen - man vergleiche die leicht abweichende Folge in unserer Bibel Nr. 1, Bd. I, ab fol. 289: David als Harfner (fol. 7); David weist auf seine Augen (fol. 23); David mit Gott (fol. 33v); Der Narr und Gott (fol. 44); David im Wasser mit Gott (fol. 54); David am Glockenspiel (fol. 67); Chorgesang (fol. 78v); Gottvater und David auf einem gemeinsamen Thron (fol. 91v[91r]).

    fol. 131: Totendienst um einen unter dem Katafalk aufgebahrten Verstorbenen mit Pleurants rechts vorn und einer Gruppe von singenden Klerikern links hinter dem von Kerzen umstandenen Katafalk.

  • Zum Stil

    Die Szenen spielen vor Mustergründen oder hoch poliertem Blattgold. Auf Innenräume ist durchweg auch dort verzichtet, wo beispielsweise der Chorgesang (fol. 78v) oder der Totendienst um den aufgebahrten Leichnam geschildert wird. In der Art der frühen Landschaften, wie sie auch von den Brüdern Limburg gemalt werden, dient malerisch angelegtes grünes Gelände als Boden. Die Figuren sind, wie in der Pariser Buchmalerei um 1400 nicht anders zu erwarten, wohl nicht durchweg von ein und derselben Hand ausgeführt. Faszinierend ist beispielsweise der gleichsam in seinem Wahn tanzende Narr, dessen Leib mit gekonnten Strichen vortrefflich herausgearbeitet ist. Bei den Gesichtern herrschen ganz unterschiedliche Farbtöne: Neben mit Grau vorsichtig modellierten Köpfen finden sich solche, die eher in Braun- und Rottönen angelegt sind.

    Die außerordentliche Eleganz einiger Gestalten läßt keinen Zweifel daran, daß der hohe Aufwand an brillant verarbeitetem Gold mit einem Auftrag an ein prominentes Atelier einhergeht. Man könnte an die geradezu chamäleonhafte Arbeitsweise des Malers denken, den man wegen seines Einsatzes in Berrys Grandes Heures, latin 919 der Pariser BnF, seit Millard Meiss als Pseudo-Jacquemart kennt: Die Berry-Handschrift ist einem Inventar zufolge von Jacquemart des Hesdins ausgemalt worden; doch sind offenbar alle Arbeiten des Meisters aus dem Buch verschwunden; was übrig blieb, ist von einer Persönlichkeit geprägt, die stark zeichnerisch vorgeht und dabei Vorbilder aus der voraufgehenden Buchmalerei, beispielsweise vom Meister des Paraments von Narbonne verarbeitet. Durrieu hielt die Miniaturen noch für Werke Jacquemarts; Meiss korrigierte dessen Sicht; Avril hat ein interessantes Stundenbuch, Ms. 4 der Stadtbibliothek in Quimper entdeckt, das in der Tat auch engere Bezüge zu unserem Codex aufweist. Hier wären zumindest die Narren-Miniatur fol. 44 und das Totendienstbild fol. 131 dieser Hand zuzuordnen.

    Die meisten Miniaturen in diesem Psalter erstaunen aber durch die Mischung aus Malerischem und zeichnerischer Präzision, wobei die im 14. Jahrhundert übliche farbliche Beschränkung durchbrochen wird. Hier geht es um den Triumph der Buntfarben, die dann von Illuminatoren wie dem Mazarine-Meister weiterentwickelt werden.

    Erst kürzlich zeigte sich, wie schwer es ist, mit dem Erbe der Forschungen von Millard Meiss umzugehen: François Avril verzichtete bei seinem Kommentar zum Jagdbuch aus der Sammlung Clara Peck, heute M. 1044 der Pierpont Morgan Library in New York auf eine präzise Zuschreibung der wichtigsten Stiltendenz. Sie könnte auf den Meister zurückgehen, den Millard Meiss selbst von den ältesten Miniaturen in dem später bei Fouquet ausgemalten Josephus, fr. 247 der BnF, definiert und dann doch nur unscharf umrissen hatte. Für ihn ist die gertenschlanke Figur, die beweglich und plastisch zugleich wirkt, charakteristisch; in seinen Köpfen, die meist etwas größer angelegt sind als in unserem Codex, scheint viel Verwandtschaft zu stecken. Gerade der Unterschied in den Inkarnaten rückt den Psalter, um den es hier geht, ins Œuvre von Werkstatt und Hand des Pariser Josephus-Meisters um 1400!

Einband: In einem modernen Einband: Rostroter alter Samt über Holzdeckeln, mit Messingschließen. Holländisches Goldpapier des 17. Jahrhunderts als Vorsätze.
Hauptsprache: Latein
Inhaltsangabe:
Psalterium mit Kalender, Litanei und Toten-Offizium.
Lateinische Handschrift auf Pergament, in dunkelbrauner Textura, mit roten Rubriken.
  • fol. 1: Kalender in lateinischer Sprache; nicht jeder Tag besetzt: Feste in Rot, einfache Heiligentage in Braun; die Goldene Zahl und das a der Sonntagsbuchstaben in Rot, die römischen Tageszahlen in Braun, die Abkürzungen für Kalenden, Nonen und Iden abwechselnd rot und braun; die Heiligenauswahl im Wesentlichen pariserisch; von vornherein ergänzt durch die für Evreux charakteristischen Lokalheiligen Gaudius (31.1.), Aquilinus (15.2.), Leufridus (21.6.), Landulphus (13.8.), Taurinus (11.8.), Inventio Taurini (5.9.); hinzu kommen als Lokalheilige von Rouen: Audoenus (26.8.), Nicasius (11.10.), Mello (22.10.) und Romanus (23.10.) - mit Ausnahme des Taurinusfestes am 11. August alle diese Nennungen durchweg in Braun; die Pariser Gervasius und Protasius (19.6.), Ludwig (26.8.), Dionysius (9.10.) hingegen in Rot.
  • fol. 7: Psalter: mit den gewohnten Psalterteilungen: Beatus vir (fol. 7); Dominus illuminatio mea (fol. 23); Dixi custodiam (fol. 33v); Dixit insipiens (fol. 44); Salvum me fac (fol. 54); Exultate deo (fol. 67); Cantate domino (fol. 78v); Dixit dominus domino meo (fol. 91v[91r]); im direkten Abschluß folgen die weiteren hymnischen Texte: Confitebor tibi (fol. 115[115v]); die alttestamentlichen und neutestamentlichen Cantica, dazwischen das Te deum (fol. 123v) und das Symbolum Athanasii Quicumque vult mit dem Nicäanischen Glaubensbekenntnis (fol. 125).
  • fol. 126v: Litanei mit einer Pariser Heiligenauswahl, der jeweils Lokalheilige von Evreux oder der Normandie angehängt sind: Taurinus, Aquilinus, Landulphus, Gaudius sowie Audoenus und Romanus
  • fol. 130: Toten-Offizium für den Gebrauch von Evreux; die Abschlußgebete (fol. 151v) für einen Mann konzipiert (famulum tuum N.); die letzte Initiale zu (F)idelium omnium, irrtümlich ein L, so daß das Eingangswort Lidelium heißt.
  • fol. 151v: Textende.
Entstehung der Handschrift:
  • Paris, um 1390/1405: Josephus-Meister und Werkstatt, zwei Miniaturen von Pseudo-Jacquemart.
  • Ein Prachtpsalterium aus der frühen Blütezeit des Pariser Stundenbuchs, zweispaltig geschrieben, sorgfältig auf den Gebrauch für die normannische Bischofsstadt Evreux eingerichtet, die zugleich bevorzugte Residenz der Könige von Navarra war; von ihnen besaß, etwa zeitgleich, Charles le Noble ein bedeutendes Pariser Stundenbuch (heute in Cleveland, Ohio). Der Band ist nicht als eine Ergänzung zu einem Stundenbuch zu verstehen, sondern als ein auf ältere Tradition ausgerichtetes Buch eigenen Rechts, das Kalender, Litanei und mit dem Toten-Offizium einen der beiden wichtigsten Stundenbuchtexte enthält.
  • Ein erstaunliches Manuskript von erlesener Schönheit: Von einem noch immer unscharf definierten Meister der Pariser Buchmalerei der Zeit um 1400 illuminiert, mit brillantem Gold, eleganten Figuren auf malerischem Landschaftsstreifen vor Blattgold oder Mustergründen. In der Miniaturisierung überzeugend und von einer Farbigkeit, die bereits entschieden ins 15. Jahrhundert vorausweist.
Provenienz der Handschrift: Sotheby's, 3.7.1933, n° 249: £ 420.- an Marks (“Property of a Deceased Estate”).
Bibliographie:
  • Der Codex ist bisher völlig unbekannt geblieben.
  • François Avril, Un chef-d'œuvre inédit de l'enluminure parisienne autour de 1400: Le livre d'heures Ms. 42 de la Bibliothèque de Quimper, in: Art de l'enluminure 8, 2004.
  • Ders., »Gaston Febus: Le Livre de chasse, Morgan 1044« und »Les quatre manuscrits principaux: L, D, A et P«, in: Ders, und William M. Voelkle, Le Livre de Chasse, Ms. M.1044. The Pierpont Morgan Library, New York, Kommentar, Bd, 2, Luzern 2006, S. 125-158.
  • E. König, Das Stundenbuch des Herzogs von Bedford. Ms. Add. 18850. The British Library, London, Kommentar zur Faksimile-Ausgabe, Luzern 2006, S. 39.