Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 157
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Wetzel René, Deutsche Handschriften des Mittelalters in der Bodmeriana, Cologny-Genève 1994, S. 203-205.

Handschriftentitel: Heinrich Seuse: Büchlein der ewigen Weisheit · Allegorischer Traktat: Die zwölf Lichter im Tempel der Seele
Entstehungsort: Südtirol (?)
Entstehungszeit: 1436
Beschreibstoff: Papier
3 Papiersorten:
  • 1. 1-48 starkes Papier mit Wz. Ochsenkopf mit Augen, doppelkonturiger hoher Stange mit Blume u. Beizeichen Kreuz (2 Keile als Querbalken an der Stange), Piccard 2, Abt. XIII, Nr. 498 (oberital. Provenienz; zusammen mit Nr. 497: Innsbruck, Meran, Nürnberg, 1435-1437);
  • 2. 49-60 dünneres Papier, jedoch selbes Wz.;
  • 3. 61-62 (die beiden Einzelbll. am Schluß) in etwas kleinerem Format (ca. 0,5 kürzer), wieder stärker, mit Wz. Waage mit dreieckigen Schalen, ähnl. Piccard 5, Abt. I, Nr. 170-174 (1429-1433, oberital. Provenienz).
Umfang: 62 Bll.
Format: 30,2 x 21,7 cm
Seitennummerierung: Moderne Bleistift-Foliierung [1]-62 (im Prinzip nur jedes 10. Bl. u. der Beginn einer neuen Lage bezeichnet). Unbeschrieben das als Vorsatzbl. dienende 1. Bl. (mit Bibliotheks- u. Besitzeinträgen).
Lagenstruktur: 5 Lagen, Sexternionen, daran anschließend 2 (neu?) zusammengebundene Einzelbll. Alte Lagenzählung (rot) je zu Beginn u. Schluß jeder Lage, nur zu Beginn für die 2 zusammengebundenen Einzelbll. (nur je ein schmaler Streifen der ehemaligen Gegenstücke erhalten).
Zustand: Einband etwas bestoßen u. an den Kanten berieben. Der Rücken teilweise gebrochen, die Kapitale liegen bloß. Der Buchblock gut erhalten. Bl. 31 mit kleinem Loch. Unbedeutende Gebrauchsspuren, speckig-abgegriffene Ränder, einige Wurmfraßspuren. Die Ränder der beiden ersten Seiten wurden in neuerer Zeit verstärkt. Der Bd. wird in einer hellbraunen Kassette (Kraus) aufbewahrt. Rotes Titelschild aus Leder mit Goldprägung.
Seiteneinrichtung: Schriftraum unregelmäßig, zw. 23,2 x 14,2 zu Beginn u. 20,4 x 16,4 gegen Schluß schwankend. Zweispaltig, zu je 30-37 Z. pro Sp. Linierung u. Sp.rahmen mit Tinte, unregelmäßig, meist eine breitere u. eine schmälere Sp. nebeneinander.
Schrift und Hände:
  • Sorgfältige bair.-österr. Bastarda von größter Regelmäßigkeit, durchgehend von einer Hand geschrieben.
  • Überschriften u. lat. Zitate sowie Namen sind besonders sorgfältig geschrieben, oft in got. Textura.
Buchschmuck:
  • Rubriziert.
  • Rote u. rot-schwarze, 2-4 Z. hohe Initialen (Lombarden) mit karger Verzierung. Die Majuskeln u. Oberlängen der Kopfzeilen hochgezogen u. rot verziert. Eine 6 Z. hohe rote Initiale mit schwarz-rotem Besatz- u. Füllornament für den Textbeginn (2ra), dasselbe, jedoch nur 4 Z. hoch für den Beginn des allegorischen Traktats (59va).
Einband: Weinrot eingefärbter Ledereinband der Zeit (15. Jh.) auf allseits abgeschrägten Holzdeckeln. Je 5 Messingbuckel auf Vorder- u. Hinterdeckel. Die Schließen sind abgerissen, Reste aus Messing am Hinterdeckel. 4 doppelte erhabene Bünde, dazu oben u. unten je ein einfacher erhabener Bund. Oberes Kapital umnäht, unteres umflochten. Das Papier des vorderen Spiegels ist teilweise herausgerissen, nur ein Bleistifteintrag (eines Antiquariates?): 5/8/4. Der hintere Spiegel ganz erhalten, nebst den Bibliothekseinträgen der Bodmeriana ein Bleistiftvermerk (Kraus?): 3776/RLOZ. Zur Verstärkung der Lagen Perg.falze eingebunden, wovon der Falz zw. Bl. 18 /19 ganz unten mit einer zierlichen, rubrizierten got. Minuskel beschrieben, lat., nichts Zusammenhängendes lesbar.
Hauptsprache: Mundart: südbair. (Südtirol?). Die vereinzelten alem. Einsprengsel in beiden Textteilen stammen wohl aus der Vorlage.
Inhaltsangabe:
  • 1. 2ra-59rb Heinrich Seuse: Büchlein der ewigen Weisheit Ez stünd ein prediger ze einer zeit nach einer metten vor einem crucifixum und chlaget got innerleichen, daz er nicht chunde betrachten nach seiner marter und nach seine(m) leiden- Daz dritte tail hat die hundert trachtu(n)g und pegerung mit churtzzen wörten, als man sy alle tage sprechen sol, amen. >Daz puechel ist volpracht in dem nam unsers herren in dem viertzehenhundert iarn und in dem xxxvi iaren, an unser lieben frawn abent, als sy geporn wart.<
    Unsere Hs. ist in der überaus reichen Überlieferung des "Büchleins der ewigen Weisheit" bislang unbekannt geblieben. Der Text vollständig, mit den "Hundert Betrachtungen" u. dem Nachwort mit dem Register, doch fehlt das für die separaten "Büchlein" charakteristische, aber nicht immer vorhandene 2. Nachwort mit der Vermahnung an die Abschreiber. Eine Einordnung in die Überlieferung ist mit den Angaben, die bei Bihlmeyer (s. u.) zu finden sind, nicht möglich. Die Textfolge ist in unserer Hs. dadurch in Unordnung geraten, daß auf Bl. 32vb ein größeres Textstück ausgelassen u. auf Bl. 43ra-53rb nachgetragen wurde, nämlich Bihlmeyer, S. 266,6-289,6, d. h. ca. ein Drittel von Kap. 16, die Kap. 17-21 u. ca. ein Drittel von Kap. 22. Da das verstellte Textstück im Umfang ungefähr einer durchschnittlichen Lage entspricht, könnte die Vertauschung durch eine Vorlage mit losen Lagen entstanden sein, die in Unordnung gerieten.
    Hg. Karl Bihlmeyer, Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, im Auftrag der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte hg. Stuttgart 1907; 2. Repr. Frankfurt a. M. 1967 (Noch immer die maßgebliche Ausg. Zur Überlieferung vgl. die Einleitung). Vgl. Georg Hofmann, Seuses Werke in deutschsprachigen Handschriften des späten Mittelalters. In: Fuldaer Geschichtsblätter 45 (1969), S. 113-208; Pius Künzle, Heinrich Seuses Horologium Sapientiae. Erste kritische Ausgabe unter Benützung der Vorarbeiten von Dominikus Planzer (Spicilegium Friburgense 23). Freiburg i. Üe. 1977, mit einem, die Liste Hofmanns ergänzenden Anhang, S. 355-360: Hss., die Seuses deutsche Werke u. die "Centum meditationes" überliefern; Neuere Funde u. Lit. vgl. ZfdA 110 (1981), S. 106-110; Alois M. Haas u. Kurt Ruh, 2VL 8, Sp. 1109-1129.
  • 2. 59va-62va Allegorischer Traktat von den zwölf Lichtern im Tempel der Seele. Eingeschoben das Exempel vom sündigen Schüler zu Paris Ain yeder mensche, der da welle, daz got der herre in dem tempel seiner sele erchant werde, der sol zwelf liecht darynne awf zunden, die den erlewchten. Daz erst liecht ist daz heilige leiden und der pitter töt unsers herren Jesu Christi, daz soltu ertzunden mit gantzzer andacht (60rb, Z. 13) Des haben wir einen exempel von eine(m) schueler, der zu Paris ze schuele gie und etwaz an chunst vast auf nam, der stuend in einem sündigen leben, darinne er nicht sicherleichen möchte sterben- So wiert denn daz liecht in dir erst entzuͤndet, daz du wierst sprechen mit sand Pawl: Ich peger, daz mein sele schaide von mein leibe und wone pey Christo unserm herren in dem tabernakel, davon Christus sprichet durch den propheten David: O wie gar wunnikchleich ist dein tabernakel, daz ist dein wonung in dem ewigen leben.
    Allergorischer Traktat, viell. als Bestandteil einer Predigt (z. B. zu einer Kirchweihe); das Thema wohl im Anschluß an 1. Cor. 3,16.
    Der Mensch soll stets vor Augen haben:
    • als 1. Licht das Leiden u. den Tod Christi;
    • als 2. Licht die Gebote Gottes;
    • als 3. Licht den Ernst des Jüngsten Gerichtes;
    • als 4. Licht die grundlose Barmherzigkeit Gottes;
    • als 5. Licht seine eigene Schwäche;
    • als 6. Licht das Vorbild u. das Leben der Heiligen;
    • als 7. Licht die Gaben Gottes u. der Nächstenliebe;
    • als 8. Licht die Vergänglichkeit des Lebens;
    • als 9. Licht den Adel der Seele;
    • als 10. Licht seine eigenen Sünden;
    • als 11. Licht seinen leiblichen Tod;
    • als 12. Licht die Wonnen u. Freude des ewigen Lebens.
    Jeder Punkt wird abgestützt durch Zitate aus der Bibel, der Väter oder gar von Seneca. Eingeschoben ist zum 4. Licht (Barmherzigkeit) das Exempel vom sündigen Schüler zu Paris, der im Traum in einem großen Ungewitter auf der Heide steht u. 4 Häuschen sieht: Ins 1. Haus läßt ihn Jungfrau "Gerechtigkeit" nicht ein. Auch im 2. Haus wird er abgewiesen und zwar von der "Wahrheit Gottes". Die Bewohnerin des 3. Hauses, "Frieden Gottes", schickt ihn zum 4. Haus, wo er bei ihrer Schwester "Barmherzigkeit" Aufnahme findet. Hier erhält er den Rat, ins Pariser Kartäuserkloster einzutreten: da finde er einen stal der puezze und eine chrippen der mäzzichait. Der Schüler erwacht u. folgt dem Rat. Das Exempel war als die Vision eines Schülers von Bologna bekannt u. verbreitet, vgl. Tubach, Nr. 4193.
Provenienz der Handschrift: Brixen, Elisabethenkloster
Die Hs. ist am Ende des "Büchleins der ewigen Weisheit", Bl. 59rb, datiert: 7. Sept. 1436. Bl. 1r zwei jüngere Tinteneinträge (18./19.Jh.): M. S. Dupl. copia / ex Saec. X V ineunte; S. Nr. 17 infolio. / Brixinae ad S. Elis(a)b(e)th(am): Bibliothek des Elisabethenklosters der Klarissinnen in Brixen. Auf selber Seite Bleistiftvermerk des 19. Jhs. zum Inhalt des Bds. In die freie Sp. von 62vb hat eine Hand wohl ebenfalls des 19. Jhs. den Text der 1. Sp. in nhd. Lautung transkribiert.
Erwerb der Handschrift: H. P. Kraus, New York, erwarb den Cod. im September 1945 von Heinrich Rosenthal in Luzern u. verkaufte ihn an Martin Bodmer im November 1955 (Nr. 97 im Kat. 75).
Bibliographie:
  • H. P. Kraus, Catalogue 75. Choice Manuscripts and Books, outstanding for their Beauty, Rarity or Importance. New York [1955], S. 105, Nr. 97;
  • Datierte Hss. 11, S. 48, Nr. 118 u. Ill. 251.