St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 902
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Euw Anton von, Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, Band I: Textband, St. Gallen 2008 (Monasterium Sancti Galli, Bd. 3), S. 446-449, Nr. 119.

Handschriftentitel: Sammelhandschrift mit Aratus Latinus
Entstehungsort: St. Gallen
Entstehungszeit: 1. und 2. Hälfte d. 9. Jh.
Katalognummer: 119
Umfang: 180 pp., 3 Papier-, Vor- u. Nachsatzbll. mit dem Wasserzeichen Lilie
Format: 32 x 25 cm
Lagenstruktur: Quaternionen (p. 7-68 signiert am Anfang mit A, B, C)
Seiteneinrichtung: Schriftspiegel 23 x 18,5 u. 26 x 20,5 cm, zweispaltig (außer p. 153-179) zu 35 Zeilen.
Schrift und Hände: kleine karolingische Minuskel von mehreren Schreibern, V Teile zusammengebunden
Buchschmuck:

p. 69-104 (Aratus Latinus) Einfache Titel in kleiner Rustica, Kapitelanfänge mit Majuskeln, Federzeichnungen in dunkelbrauner Tinte, oft die Spalten überschreitend.

Inhaltsangabe:
Inhaltsübersicht
  • Inhaltsübersicht: I.
  • I. p. 8-68 Grammatik des Dositheus (4. Jh. n. Chr.) mit griechisch-lateinischen Namen u. Deklinationen (St. Gallen, Anfang d.10. Jh., zur Spezifizierung des Inhaltes siehe Eremus und Insula, S. 80)
  • Inhalt und Schmuck von Teil II
  • II. p. 69-104 Aratus Latinus: Recensio Interpolata
    • (p. 69) Arati ea que videntur
    • (p. 73) Alia descriptio prefationis. Subtus terram
    • (p. 75) Descriptio duo (sic!) semisperium. Habet autem pondus, großer, mit dem Zirkel gezogener Ring aus zwei Kreisen, oben drei Sterne eingezeichnet, innen leer. Wenngleich die Hs. außen u. unten beschnitten sein mag, reicht dieses zur Erklärung der Übergröße des über beide Spalten gezogenen Kreises nicht aus (die entsprechende Figur fehlt in Sang. 250 - Nr. 120)
    • (p. 76) der nördliche u. südliche (unten stark beschnittene) Himmelsglobus, wiedergegeben in zwei Planisphärien mit Nord-Südachse, fünf Zonen (Breitengürtel), Zodiakalgürtel u. Sternbildern
    • (p. 77) Arati genus. Aratus patris quidem est Athinodori filius
    • (p. 77) De celi positione. Celum circulis quinque distinguitur
    • (p. 78) De stellis fixis et stantibus. Stellarum aliae cum caelo feruntur
    • (p. 79) Involutio spere. Hic est stellarum ordo utrorumque circulorum
    • (p. 81) ganzseitige Darstellung eines Himmelsglobus in einem aus Säulen gebauten Gestell, der Äquator ebenso gebaut, hier räumlich angedeutet, der Meridian auf einer mittleren Säule drehbar
    • (p. 82-97) die Sternbilder (dargestellt ohne Sterne) teilweise mit Namen:
      • p. 82 Vertices extremos

      • p. 82 1. Arcturus maior, mit heraushängender Zunge, nach links

      • p. 83 2. (Arcturus minor) wie 1.

      • p. 83 3. Serpens inter ambas arcturas, Bärinnen Rücken an Rücken in den Windungen der Schlange

      • p. 84 4. Herculis, «auf den Knien», mit nach links gegen die sich im Baum windende Hydra ausgestrecktem Arm, auf dem das Löwenfell liegt, die Rechte schwingt als Keule einen Zweig

      • p. 84 5. (Corona), Kranz als halbes Oval aus 7 kleinen Ovalen u. einem Querbalken mit 2 Sternen

      • p. 85 6. Serpentarius nach links in Vorderansicht, auf dem Skorpion stehend, die mit beiden Händen gehaltene Schlange züngelt ihn an

      • p. 85 7. Scorpius, Rückenansicht von oben

      • p. 85 8. Bootis, aufschauend, mit Lendenschurz bekleidet, über der ausgestreckten Rechten das Löwenfell, die Linke schwingt den Eisenhaken

      • p. 86 9. Virgo, mit geschmückter Tunika, Palla u. Kopfschmuck, in der Rechten einen Zweig, in der Linken die Waage

      • p. 86 10. Geminos, beide Zwillinge spiegelbildlich in kurzer Tunika u. Chlamys, die äußere Hand jeweils an den Lanzen

      • p. 86 11. Cancer, Zangen nach rechts, von oben gesehen

      • p. 87 12. Leo, im Sprung nach links, Zunge herausgestreckt

      • p. 87 13. (Auriga) auf beiden Knien nach rechts, mit kurzer Tunika u. Pallium bekleidet, in der Rechten die Geißel, auf dem ausgestreckten linken Arm die beiden Böckchen, rechts die Ziege

      • p. 87 14. Taurus, als Protom nach rechts

      • p. 88 15. Cepheus, frontal, in kurzer langärmeliger Tunika u. über den ausgebreiteten Armen liegendem Pallium, auf dem Lockenkopf spitzes Hütchen

      • p. 88 16. Cassiopia, frontal auf dem Thron sitzend, in langärmeliger Tunika u. Dalmatica sowie Pallium, Kopfschmuck wie Kepheus

      • p. 89 17. Andromeda in langer Tunika, die ausgestreckten Arme entblößt, die Hände greifen auf die Felskaskaden

      • p. 89 18. Equus, geflügeltes Pferdeprotom, nach rechts

      • p. 90 19. (Aries), nach links, mit zurück gewandtem Kopf durch den Kolur springend, der ihm als Kranz um den Leib gelegt ist.

      • p. 90 20. (Triangulus) mit einer Ranke verziertes Dreieck

      • p. 90 21. (Pisces), gegenständig übereinander, mit der Schnur verbunden

      • p. 91 22. (Perseus), nackt, mit Chlamys u. Helm, das Haupt der Medusa in der ausgestreckten Rechten, die Linke holt mit dem Schwert aus

      • p. 91 23. Vergilie, die 7 Plejaden als imagines clipeatae junger Frauen

      • p. 92 24. Lira, breite Leier mit querrechteckigem Resonanzkasten

      • p. 92 25. Aquarius, nach rechts ausschreitend, in kurzer Tunika, Chlamys u. spitzem Helm, die Amphore ausgießend

      • p. 92 26. Cignus, mit ausgebreiteten Flügeln nach rechts

      • p. 93 27. (Capricornus), Ziegenfisch nach links

      • p. 93 28. (Sagittarius), als gehörnter Kentaur nach links, mit Bogen u. wehender Chlamys

      • p. 93 29. (Aquila), nach rechts, zum Flug ansetzend, Kopf zurückgeworfen

      • p. 94 30. Delfinus, sechsflossiger hundsköpfiger Fisch, nach links

      • p. 94 31. Orion, in kurzer Tunika, nach links ausschreitend, die Chlamys bedeckt die vorgehaltene Rechte, in der ausholenden Linken das Schwert

      • p. 94 32. Canis, nimbierter Sirius, nach links springend

      • p. 95 33. Lepus, Hase im Sprung nach links

      • p. 95 34. Navis, hintere Schiffshälfte mit zwei Steuerrudern am Heck, übereck gestelltem Häuschen u. Mast

      • p. 95 35. Cetus, mit Hundskopf u. Ringelschwanz, nach rechts

      • p. 96 36. Eridanus, bärtiger Kopf mit flammenartigem Haar u. redender rechter Hand über dem angedeuteten Wasser

      • p. 96 37. Pisces (sic!) (Piscis magnus), nach links, auf dem Rücken schwimmender Fisch

      • p. 96 38. Sacrarium, Räuchergefäß, dreifach gestuft, mit Fenstern, oben die Flamme

      • p. 97 39. Centaurus, bärtig, nach rechts galoppierend, in der ausgestreckten Rechten den Hasen, an der geschulterten Lanze aufgehangen das «Tier»

      • p. 97 40. Ydra, auf der sich nach links schlängelnden Wasserschlange der Krater u. der Rabe

      • p. 97 41. Antecanis, der kleine Hund springt nach links

    • (p. 97-104) Die 5 Planeten, der Milchkreis, Zodiakus, Mond u. Sonne
      • p. 97 Cum sole et luna septem astra numerantur

      • p. 99 nimbierte Imagines clipeatae von Merkur u. Mars, Venus, Jupiter u. Saturn (Merkur u. Jupiter sind vertauscht)

      • p. 99 Lacteus circulus, Ring aus zwei Kreisen, darin oben 3 Punkte

      • p. 100 zweispaltig (unten etwas angeschnitten) Zodiacus vel signifer, im äußeren Ring 12 Sektoren mit den Tierkreiszeichen, oben Widder, im mittleren Kreis Sol, in Tunika u. Chlamys, mit der Sonne nimbiert, u. Luna mit der Mondsichel auf dem Haupt, beide dreiviertelfigurig

      • p. 102 halbseitig, im Kreis Luna auf der Ochsenbiga, in der Linken aufrecht die Fackel

      • p. 103 Sol, halbseitig, frontal auf der Pferdequadriga, die Rechte erhoben, die verhüllte Linke hält den Globus u. aufrecht die Fackel

    • (p. 104) Explicit liber astrologorum (in Halbunziale).
  • III. p. 106-152 Hrabanus Maurus (um 780-856): Liber de computo p. 136 unten: V. N. Mai obitus Uuilliharti (St. Gallen, 2. Viertel d.9. Jh.)
  • IV. p. 153-175 Computus Graecorum mit Titel in Hohlcapitalis u. Initiale I(ncipit computus Graecorum anni circuli qualiter calculare debeas), in Minium, am Fuß zwei Tierköpfe, nachfolgende Zeile in Hohlcapitalis mit Tinte, gefüllt mit Grün u. Minium (St. Gallen, um 820-830)
  • V. p. 176-179 Cycli decemnovennales. Der erste Zyklus beginnt mit dem Jahr 810, der letzte endet mit dem Jahr 911 (St. Gallen, 9.-10. Jh.).
Entstehung der Handschrift:
  • Die Teile II, III u. IV sind mit den im ältesten Bibliothekskatalog des Sang. 728, p. 18, genannten «Liber Astrologiae et compotus Rabani et alius compotus in volumine I» (MBK I, S. 80) zu identifizieren, wobei der jetzt letzte (IV.) Teil als ältester, um 820-830 entstandener, gelten darf. Seine Initiale I(ncipit) p. 153, die Hohlcapitalis u. die Schrift mit den offenen a zeigen Verwandtschaft mit Hss. der Wolfcoz-Zeit wie Stuttgart HB II 54 (Nr. 21). Teil III mit dem Liber de computo des Hrabanus Maurus beginnt p. 106. Seine in Minium gezeichnete Initiale d(ilecto fratri Marchario monacho Hrabanus) scheint mir typisch für das mittlere 9. Jahrhundert in St. Gallen zu sein. Ihr Zeichner schreibt auch den rubrizierten Titel in Rustica «Incipit prologus Hrabani abbatis» und schreibt bis Zeile 8. Alsdann wird er von einer anderen Hand abgelöst. Der Eintrag des Todestages Williharts (OBITVS VVILLIHARTI) könnte ein Gedächtnis an den 827 eingetretenen Mönch Willihart (Schaab, Mönch in St. Gallen, S. 74, Nr. 218) sein, der um 850 früh verstorben wäre.
  • Der Aratus Latinus gehört textlich u. nach der Bildredaktion zur Gruppe der «Recensio Interpolata» (vgl. Sang. 250 - Nr. 120. - Ernst Maass, ed., Commentariorum in Aratum reliquiae, Berlin 1898 [Neudruck 1958], S. 102-126, 145-161, 180-271). Die Text-Bildvorlage von Sang. 902 scheint einspaltig gewesen zu sein, wie beispielsweise Köln, Dom, 83 (II). Das zweispaltige Umschreiben u. Bebildern ist manchmal missglückt, auch die Zeichnung zu p. 75, die wohl wie Paris BNF. lat. 12957, fol. 63v ein Planisphärium mit Blick auf den Nordpol sein sollte, ist missverstanden. Seit Cordoliani (S. 188) scheint sich die Datierung des Aratus u. Hrabanus (II.-III.) um die Mitte des 9. Jh. durchgesetzt zu haben (McGurk, O'Connor).
Bibliographie:
  • Scherrer , S. 318f.
  • Rahn, Psalterium aureum, S. 36, 54
  • Georg Thiele, Antike Himmelsbilder. Mit Forschungen zu Hipparchos, Aratos und seinen Fortsetzern und mit Beiträgen zur Kunstgeschichte des Sternenhimmels, Berlin 1898, S. 160f.
  • Merton, S. 56f., Taf. IL-LI
  • Goldschmidt, Deutsche Buchmalerei I, S. 61, Taf. 80
  • Löffler, St. Galler Schreibschule II, S. 30, 40 Anm. 8
  • Bruckner III, S. 122, Taf. XXXVIII
  • Cordoliani, Manuscrits de comput, S. 188f.
  • Cordoliani, L'évolution du comput ecclésiastique à Saint Gall du VIIe au XIe siècle, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 49, 1955, S. 299-312
  • Boeckler, St. Galler Fragmente, S. 42 Anm. 25
  • Knoepfli, Kunstgeschichte I, S. 37-39
  • Walter Berschin, Griechisch-lateinisches Mittelalter I. Von Hieronymus zu Nikolaus von Kues, Bern und München 1980, S. 158-193
  • Patrick McGurk, Carolingian Astrological Manuscripts, in: Charles the Bald: Court and Kingdom (Papers based on a Colloquium held in London in April 1979), hrsg. von Margaret Gibson und Janet Nelson (BAR International Series 101), London 1981, S. 317-332, bes. S. 319f.-324
  • Elisabeth O'Connor, The Star Mantle of Henry II., Ph. D. Columbia University, New York, 1980 (University Microfilm, Ann Arbor, Michigan 1984), S. 64f., Abb. 91, passim
  • Henri Le Bourdellès, L'Aratus Latinus. Etude sur la culture et la langue latine dans le Nord de la France au VIIIe siècle, Lille 1985, S. 20, 77, passim
  • Eggenberger, Psalterium aureum, S. 179, 185
  • Florentine Mütherich, Die Bilder, in: Bernhard Bischoff, Bruce S. Eastwood, Thomas A.P. Klein, Florentine Mütherich, Pieter F.J. Obbema, Aratea. Kommentar zum Aratus des Germanicus Ms. Voss. Lat. Q. 79 der Bibliotheek der Rijksuniversiteit Leiden, Luzern 1989, S. 31-68, bes. S. 35, 37-44, 47-51, 61, Abb. 17f.
  • Duft, Abtei St. Gallen I, S. 58
  • Mechthild Haffner, Ein antiker Sternbilderzyklus und seine Tradierung in Handschriften vom frühen Mittelalter bis zum Humanismus. Untersuchungen zu den Illustrationen der «Aratea» des Germanicus (Studien zur Kunstgeschichte Bd. 114), Hildesheim, Zürich, New York 1997, S. 28 passim
  • von Euw, in: Kloster St. Gallen, S. 181.
  • Anton von Euw, Der Aratus Latinus in Hs. 83 (II) der Kölner Dombibliothek, in: Römische Historische Mitteilungen 41, 1999, S. 405-422, bes. S. 415.
  • Eremus und Insula, S. 80, 83, Abb. S. 81.
  • Bianca Kühnel, The End of Time in the Order of Things, S. 47, 104, 164, Abb. 100.
  • Walter Berschin, Griechisches in der Klosterschule des alten St. Gallen, in: Derselbe, Mittellateinische Studien, S. 180, 182, 184, 187-188, 192.
  • von Euw, Astronomie und Zeitrechnung im Karolingerreich, S. 23, 37, Abb. 4, 23.