St. Gallen, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 729
Lenz Philipp / Ortelli Stefania, Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, Bd. 3: Abt. V: Codices 670-749: Iuridica; Kanonisches, römisches und germanisches Recht, Wiesbaden 2014, S. 247-251.
Handschriftentitel: Epitome Aegidii · Lex Salica et Childeberti II. decretio · Lex Alamannorum
Entstehungsort: Frankreich
Entstehungszeit: 1. Viertel 9. Jh.
Beschreibstoff: Pergament
Umfang:
A–H + 404 + Y–Z Seiten. Buchblock 203 Blätter.
Format: 23,5 × 16
Seitennummerierung: Paginierung I.v.A. A–H, 1–49, 49a, 49b, 50–404, Y–Z.
Lagenstruktur:
(III-1)10 + (IV-2)22 + 11 IV196 + (III+1)210 + (III+2)226 + 2 IV242 + (IV+1)260 + IV276 + III288 + 2 IV320 + (III+1)334 + 4 IV398 + (I+1)404; nach p. 6 ein, nach p. 18 zwei beschriebene Blätter herausgeschnitten (ohne Textverlust). Die Hs. besteht aus 3 gleichzeitigen Teilen: Teil I p. 1–260; Teil II p. 261–334; Teil III p. 335–404. Zeitgenössische Lagenzählung am Lagenende unten Mitte, Teil I: [q] III (p. 22) – q XVII (p. 242), z. T. stark beschnitten; Teil II: q I (p. 276) – q III (p. 304); Teil III: q I (p. 350) – [q] IIII (p. 398), z. T. stark beschnitten.
Zustand: Pergament, z. T. mit braunen Flecken an den Rändern, manchmal bis in den Schriftspiegel, gelegentlich Verlust einzelner Anfangs- und Schlussbuchstaben durch Beschädigung der Blattränder. Am Anfang der Hs. fehlt der Beginn der Capitula (Theodosius bis Maiorianus inklusive) – gemäss der Signatur des Tschudi-Nachlasses auf p. 1 – spätestens seit 1768. Er dürfte nach Inhalt ca. 3 Doppelblättern einer 1. Lage entsprochen haben.
Seiteneinrichtung:
Schriftraum Teil I einspaltig, 16,5–17,5 × 9–10, 19–21 Zeilen, ab p. 211 25 Zeilen; Teil II–III einspaltig, 17–18 × 10, 20 Zeilen. Teil I–III Blindlinierung, Zirkellöcher nahe am Schriftraum.
Schrift und Hände:
Nach Bischoff karolingische Minuskel des 1. Viertels des 9. Jh., wohl von 3 Händen, in brauner Tinte:
- Teil I 1. Hand (viele, häufige und grosszügig gestaltete Ligaturen);
- Teil II 2. Hand (Minuskel-a ziemlich aufgerichtet);
- Teil III 3. Hand (seltene Ligaturen).
Buchschmuck:
p. 10, 13, 269 und 335 zu Beginn des Prologs und der Texte Incipit in 1–2-zeiliger Capitalis Quadrata, zeilenweise orangefarbig und braun, p. 335 gelb unterlegt, p. 10 und 269 3–4-zeilige Initiale in Orange und Braun, p. 404 am Schluss Explicit in brauner Capitalis Quadrata; zu Beginn der Libri Incipit in orangefarbiger Capitalis Quadrata und Unziale; bei den Kapiteln meistens Überschriften – soweit vorhanden – und Kapitelzählung in orangefarbiger Unziale, zu Kapitelbeginn meistens 1–3-zeiliger Versalbuchstabe oder Majuskel, orangefarbig, p. 272–286 braun.
Spätere Ergänzungen:
- p. 243–258 Inhaltsvermerke und andere Einträge von der Texthand in derselben Tinte;
- p. 386–393 interlineare und marginale Korrekturen in karolingischer Minuskel des 9./10. Jh., wahrscheinlich identisch mit Eintragshand in Cod. Sang. 732, p. 1–98 (vgl. besonders v für u auch in der Wortmitte und am Wortende bei Korrektureinträgen);
- Teil II–III passim Marginalien und Korrekturen von Aegidius Tschudi (1505–1572) in gräulicher Tinte, der unter anderem Wörter germanischen Ursprungs im Text unterstrich, am Rande notierte und z. T. glossierte;
- p. 334 und 335 Marginalien von einer späteren Hand.
Einband:
- Einband des 9./10. Jh. Tiefgreifende Restaurierungen 1970 und 1976 (Rietmann), u. a. des Rückens, teilweise der Heftung und schadhafter Blätter (geglättet und ergänzt). Leder (Wild, Sämischgerbung) auf Holz. Streicheisenlinien und Blindstempelung: auf Vorderdeckel Rechteck, durch Rauten- und Diagonalbänder geteilt; auf Hinterdeckel Rechteck mit Mittelfeld, durch Diagonalbänder geteilt; auf Vorder- und Hinterdeckel Einzelstempel, nämlich konzentrische Kreise, z. T. als Vierergruppe, S- und C-Spirale, Palmette, Herzblatt, zwei ineinander geflochtene Ovale. Nach Vezin Einbandverzierung »plutôt germanique«. 1 Ösenverschluss (Adler BV.2.1.2) wahrscheinlich der 1. Hälfte des 19. Jh., erhalten sind einfacher Dorn mit Köpfchen (2a) in der Vorderdeckelkante, Rest von Lederriemen und 2 neuere Nägel am Rand des Hinterdeckels (BV.8c). Karolingischer Rückentitel längsseits von oben nach unten <...>ege<...>diuerse<...>, z. T. überklebt von Titelschild, darunter ursprünglich älteres Titelschild Leges Alarici <...>, bei der Restaurierung abgelöst und heute separat aufbewahrt (Rietmann). Heftung auf 3 Bünde. Verlängerte Kapitale mit rechteckigem Kapitalläppchen, Einlage und Fischgrätmuster.
- Vorderes Spiegelblatt (vor p. A), Vorsatzblatt (p. A/B) und Nachsatzblatt (p. Y/Z) aus Pergament eingefügt 1976, weitere Vorsatzblätter (p. E–H) aus Papier des 18. Jh. oder des beginnenden 19. Jh. Hinteres Spiegelblatt aus Pergament, evt. ursprünglich zur letzten Lage gehörig (s. o. Lageformel). P. F–G Inhaltsangabe von Ildefons von Arx sowie Vermerk zur Kollationierung der Hs. für Gustav Haenel 1823.
Inhaltsangabe:
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1-260
Epitome Aegidii ex Lege Romana Visigothorum
- (1-9) Anfang der Capitula fehlt [s. o. Lagenzählung]. Unvermittelter Beginn der Capitula von Severus bis zu Papianus. //I De abgrogatis capitibus …–… uirum et uxorem. Rest der Seite leer,
- (10-12) Prolog >In Christi nomen [sic] incipit liber legum auctoritas Alarici regis< Utilitatis [sic] populi nostri …–… edidi atque subscripsi. >Explicit.< Rest der Seite leer,
- (13-260) Text. >Incipiunt tituli legum ex corpor[e] Theodosiani breviter sucincti. I De constitutionibus … < Prolatę leges principum …–… inter se oblegari possunt.
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261-334
Lex Salica et Childeberti II. decretio
- (261-267) Capitula (267) Rest der Seite leer, (268) leer,
- (269-272) Prolog. >In nomine sanctae Trinitatis incipit prologus libri Salicae< Gens Francorum inclyta …–… lapides preciosos adornauerunt.
- (272-328) Text. >De mannire< Si quis ad mallum …–… cecidit multorum potestas. Darin entsprechen (284) zwei evt. für Rubrizierung leergelassene Zeilen dem fehlendem Text [Ed., S. 59]. Nur teilweise Kapitelüberschriften vorhanden.
- (328-334) Childeberti II. decretio. >Incipit decretum Hildeberti. Hildebertus rex Fra[n]corum vir inlustris< Cum in dei nomine …–… regni nostri colonia feliciter.
- (334) Lex Salica, Epilog. Expliciunt leges Salicae …–… tempore conseruata fuissent.
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335-404
Lex Alamannorum
- (335) Einleitungsformel. >Incipit lex Alamanorum quę temporibus Chlotharii … ceterus populus multitudo adunatus<
-
(335-404)
Text bis Titel 97,2.
>.I. De liberis … <
Si quis liber res suas …–…
Si seruus fuerit xii solidos soluat.
>Explicit lex Alamannorum<
Nur teilweise Kapitelüberschriften vorhanden. Text des Kapitels 33 fehlt. Zahlreiche Abweichungen zwischen Edition und Hs. in der Kapitelzählung: 1–32 gleich, 34–41=33–40, 42=41–42, 43–53 gleich, 54=54–55, 55– 56=56–57, 57=48 [richtig 58]+60–61, 58–61=59–62, 62–63=63, 64–71 gleich, 72–74=72, 75=83, 76–77=84, 78=85, 79–80=86, 81–89=87–95, 90–91=94, 92–93=95–95, 94=96–97, 95–97=98. Durch spätere Hand [s. o.] Varianten nach dem B-Text eingetragen, z. B. (386) ei uiam für eum [Ed. S. 129, Z. 5], omnis für omnia [Ed. S. 129, Z. 14], (387) filiis suis für ad filios suos [Ed. S. 130, Z. 1], (387) ergänzt qui eum occiderit (Ed. S. 130, Z. 9), quantum für quod [Ed. S. 130, Z. 13/14], (388) adpraecietur für adpraecit [Ed. S. 131, Z. 11], (390) vero für illum [Ed. S. 135, Z. 9], (390) illam optimam vaccam für illa melissima vacca [Ed. S. 136, Z. 1], (391) optimus bos für summus bouis [Ed. S. 137, Z. 15]; ebenso Korrekturen, z. B. (386) cavallo für caballo, (387) iudicavimus für iudicabimus, (387) solidis für soledus, (388) cavallum für caballum und Ergänzungen fehlender Worte am Seitenrand (390, 391).
Entstehung der Handschrift: Gemäss Bischoff und Mckitterick wurde die vorliegende Hs. in einem »Leges-Scriptorium« mit Verbindung zum Hof Ludwigs des Frommen im 1. Viertel des 9. Jh. in Frankreich geschrieben. Es ist unklar, ob diese Hs. oder BAV, Vat. Reg. Lat. 1128 dem Eintrag Lex Theodosiana. Lex Ermogeniana. Lex Papiani. Lex Francorum. Lex Alamannorum. In uolumine .I. (Ed. MBK 1, S. 79, Z. 20–22) im ältesten St. Galler Bücherverzeichnis von ca. 850–880 entspricht. Für die vorliegende Hs. spricht das Argument der genaueren inhaltlichen Übereinstimmung – Cod. Vat. Reg. Lat. 1128 enthält nämlich neben der Lex Romana Visigothorum, Lex Salica und Lex Alamannorum noch weitere Gesetzestexte –, für Letztere die von Avenarius und Euw vornehmlich kunstgeschichtlich begründete Herstellung im St. Galler Skriptorium unter Abt Gozbert (816–837). Möglicherweise entspricht der beschränkt leserliche Rückentitel (s. o.) einem unter der Rubrik Iuris civilis figurierenden fragmentarischen Eintrag im Katalog von 1461 <...> diverse, wobei platzmässig die Konjektur Leges diverse durchaus möglich erscheint (Ed. MBK 1, S. 117, Z. 40–41).
Provenienz der Handschrift: Später im Besitz des Aegidius Tschudi (1505–1572), der die Hs. annotierte (s. o.), zu diesem vielleicht unter den gleichen Umständen gelangt wie Cod. Sang. 622 (Weltchronik des Frechulf von Lisieux, 9. Jh.), der um 900 und noch 1534 im Kloster St. Gallen attestiert ist (Ochsenbein/Schmuki).
Erwerb der Handschrift:
Das freundschaftliche Verhältnis Tschudis zu Abt Diethelm Blarer (1530–1564) dürfte dabei eine Rolle gespielt haben (vgl. Sieber). Nach Tschudis Tod blieb die Hs. auf Schloss Gräpplang bei Flums, bis sie als N. 97 (p. 1) seines Nachlasses 1768 in die Stiftsbibliothek kam.
Bibliographie:
- Pertz, Italiänische Reise, S. 213–215;
- Wegelin, Nöthige Bemerkungen, S. 479–481;
- Mordek, Bibliotheca, S. 668–670 (Lit.).
- Bruno Krusch, Neue Forschungen über die drei oberdeutschen Leges Bajuvariorum, Alamannorum, Ribuariorum (= Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-hist. Kl., N. F., 20/1), Berlin 1927, S. 177–180.
Zum Einband:
- Karl Christ, Karolingische Bibliothekseinbände, in: Festschrift Georg Leyh, Leipzig 1937, S. 82–104, Tf. II, Nr. (7), 10, 14;
- Geoffrey D. Hobson, Some Early Bindings and Binder’s Tools, in: The Library 19 (1938), S. 214–233, hier S. 217;
- Ernst Kyriss, Vorgotische verzierte Einbände der Stiftsbibliothek St Gallen, in: Gutenberg-Jahrbuch 1966, S. 321– 330, hier S. 323, 325, Abb. S. 327, Tf. 4, Nr. 7;
- Jean Vezin, Les plus anciennes reliures de cuir estampé dans le domain latin, in: Sigrid Krämer, Michael Bernhard (Hg.), Scire litteras (= Bayerische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl., Abh., N. F. 99), München 1988, S. 406;
- Jean Vezin, Les reliures carolingiennes en cuir estampé conservées à Saint-Gall, in: Carol Heitz, Werner Vogler, François Heber-Suffrin (Hg.), Le rayonnement spirituel et culturel de l’abbaye de Saint-Gall (= Centre de recherches sur l'Antiquité tardive et le haut Moyen Âge 9), Paris 2000, S. 73–80, hier S. 77.
- Rietmann, Restaurierungsbericht (mit Fotos);
- Szirmai, Dokumentation.
Zur Schrift, Austattung und Schriftheimat:
- Löffler, Schreibschule 2, S. 32;
- Bernhard Bischoff, Die Hofbibliothek unter Ludwig dem Frommen, in: Ders., Mittelalterliche Studien 3, S. 179–180;
- Bischoff, Handschriftenarchiv, 4.51, ebenso Verweis in: MGH LL nat. Germ. 4,1, S. XVII;
- Rosamond Mckitterick, The Carolingians and the Written Word, Cambridge 1989, S. 49 (Tab. A), S. 57, Anm. 79;
- Euw, Zur künstlerischen Ausstattung, S. 63– 64, 68–69;
- Bischoff, Katalog, Nr. 5841.
- Einl. S. XVIII–XIX.
Zum Vorbesitz:
- Nachlassverzeichnis des Aegidius Tschudi, Nr. 97;
- Weidmann, Geschichte, S. 388, Anm. 515;
- Duft, Tschudi-Handschriften in der Stiftsbibliothek, bes. S. 173;
- Peter Ochsenbein, Karl Schmuki, Bibliophiles Sammeln und Historisches Forschen. Der Schweizer Polyhistor Aegidius Tschudi (1505–1572) und sein Nachlass in der Stiftsbibliothek St. Gallen. Führer durch die Ausstellung in der Stiftsbibliothek, 1. Dezember 1990 bis 2. November 1991, St. Gallen 1991, S. 39–42;
- Clausdieter Schott, Der Codex Sangallensis 731, in: Stephan Buchholz et al. (Hg.), Überlieferung, Bewahrung und Gestaltung in der rechtsgeschichtlichen Forschung (= Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F. 69), Zürich 1993, S. 302;
- Christian Sieber, Begegnung auf Distanz – Tschudi und Vadian, in: Katharina Koller-Weiss, Christian Sieber (Hg.), Aegidius Tschudi und seine Zeit, Basel 2002, S. 110–121, Anm. 15, 33, 35.
Zu BAV, Cod. Vat. Reg. Lat. 1128:
- Euw, St. Galler Buchkunst, S. 57, Nr. 36;
- Martin Avenarius, Der pseudo-ulpianische liber singularis regularum (= Quellen und Forschungen zum Recht und seiner Geschichte 12), Göttingen 2005, S. 15–32;
- vgl. Schmuki, Beschäftigung mit juristischen Handschriften, S. 439–441.