St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 455
Scarpatetti Beat Matthias von, Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, Bd. 2: Abt. III/2: Codices 450-546: Liturgica, Libri precum, deutsche Gebetbücher, Spiritualia, Musikhandschriften 9.-16. Jahrhundert, Wiesbaden 2008, S. 22-24.
Handschriftentitel: Martyrologium des
Entstehungszeit: 11./12. Jh.
Frühere Signatur:
S. n. 286
p. A.
Beschreibstoff: Pergament. Eher dünnes Pergament mittlerer Qualität, viele Bogen sind unregelmässig am Rand, haben Löcher und Vernähungen.
Umfang:
A-D + 603 + Y, Z Seiten
Format: 23 x 16,5
Seitennummerierung: Paginierung I. v. A. mit rotem Farbstift, wiederholt 239, von da an die geraden Seiten rechts bis 326, welches wiederholt ist, wiederholt 354, gerade Seiten wiederum rechts bis 460, springt 460/462, wiederholt 522, von da an gerade Seiten wiederum rechts bis Schluss.
Lagenstruktur: Quaternionen, die ersten beiden Lagen p. 1-16, 17-32 und im Folgenden diverse sind komposit, stets aber vollständig, ausser IV[-1]335-348, nach p. 346 ein Bogen halb beschnitten; ganz zusammengesetzt ist der letzte Quaternio, bei welchem das Blatt p. 590/591 später eingeschoben ist. Wohl zeitgenössische Lagennummerierung mit roter Tinte in grossen Ziffern ii-xxxviii, p. 17-588.
Seiteneinrichtung:
Einspaltig 18/18,5 x 9,5/12,5, 20 Z., Blindlinierung, Zirkellöcher
Schrift und Hände: Der Band ist von einer Haupthand (s.u. Hand Nr. 3) und von ungefähr sechs weiteren Händen des ausgehenden 11. Jhs. oder der Zeit um 1200 geschrieben, die als nicht st. gallisch zu betrachten sind, obwohl die Hs. in einer knappen, unkommentierten Form bei Bruckner (s.u.) figuriert; abgesehen von der tendenziell mehr vertikalen und weiterer st. gallischer Eigenheiten ermangelnden Schrift hat Bruckner die Marginalien p. 168, 409, 502 und 539 nicht beachtet, da die St. Galler Hausheiligen Wiborada, Magnus, Gallus und Otmar bei ihren jeweiligen Tagesdaten von zeitgenössischer Hand nachgetragen worden sind, p. 386f. auch der Konstanzer Patron Pelagius
- In der ersten Lage p. 1-16, die als Teil I einem Vorspann gleichkommt, aber die Vorrede und den Textanfang offenbar als Ersatz für den originalen Anfang des Werks enthält, schreiben div. Hände des 11.-12. Jhs.:
- 1. p. 1f., 15f. der hier sehr gross und mit eher breiter Feder schreibende kalligraphische Kanzlist des 13. Jhs., welcher in diesem Codex seine frühgotische Schrift der karolingischen annähert, während er im p. 2 unten zugefügten Hostien- Vers (s. u.) seine stärker kursive übliche kleine Minuskel anwendet;
- 2. p. 3 schreibt eine Hand des 11. Jhs. die ersten 9 Z. in eher rechtsgeneigter, scharfgeschnittener Schrift,
- diese Hand wird im Text Z. 9 von der 3. Hand, der Haupthand, abgelöst; diese schreibt vertikal und ist mit Knäufen und Häkchen reich versehen, von ihr stammen p. 3-14 sowie die Lagen ii-iiii p. 17-64, in welchen kontinuierlich Schwankungen vorkommen, s. p. 37 (andere Hand?) und 44f.;
- p. 54f. oben schreibt der kalligraphische Kanzlist die Verse über die 5 Annen.
- Ab p. 65 folgt eine 4. Hand, in der Folge aber setzen periodisch Wechsel ein,
- die unteren zwei Drittel von p. 79 dürften bereits von der 5. Hand, derjenigen Dromos, stammen, vgl. den Quaternio Nr. VI p. 81-96; dieser ist als solcher subskribiert mit sehr kleiner Schrift in der linken untern Blattecke p. 96: Hanc [sic] quaternionem dromo scripsit. Dieser sowohl in der sprachlichen als auch codicologischen Form in den St. Galler Hss. einmalige Eintrag stammt von einem Schreiber, der weder in den Professurkunden, noch im Corpus der St. Galler Urkunden, noch als Name im Altdeutschen Namenbuch Förstemanns bekannt ist. Wenn dieser Eintrag betr. des Quaternio wörtlich zu nehmen ist, so schwankte die Hand Dromos beträchtlich, vgl. p. 85; seine vertikale, steife und eher linkische Schrift (s. p. 83, 86) ist durch eine schlaksige Vertikale, ein stabartiges, gerades s mit häkchenartigem Bogen und ein g mit tendenziell geradem Abstrich charakterisiert;
- p. 87 schiebt sich mit 2 Zeilen eine andere Hand ein.
- Ab p. 97 fährt eine massivere 6. Hand fort, bei welcher schon p. 98 wieder Schwankungen einsetzen;
- p. 106-108, 131-133 gleichen Übungsfeldern, im Bereich p. 113-125 wirkt auch Dromo mit grösseren Teilen mit;
- p. 134-208, ev. auch 134-229 stammen im Wesentlichen von der Haupthand, Handwechsel jedoch auf jeden Fall p. 229, 238.
- In der Partie p. 256-395 setzt eine routiniertere 7. Hand ein, welche p. 396 mit der Lage xxvi wieder von der Haupthand abgelöst wird. Diese 7. Hand ist der Grund, den Codex eher dem 11. als dem 12. Jh. zuzuteilen.
- Die Haupthand schreibt alsdann bis zum Schluss, ausser dem eingeschobenen Blatt p. 590-591, welches als Ersatz von der Hand des kalligraphischen Kanzlisten eingefügt worden sein dürfte. Dieser fügt neben den bereits bestehenden, von zeitgenössischer Hand sehr linkisch angebrachten Marginalien seine eigenen in gewohnt gestochener, präziser Schrift passim an; am Schluss fügt er solcherart p. 601f. astronomische und chronikalische Ereignisse an. Eine etwas verschlüsselte Notiz p. 601 zu einem Kometen bestätigt seine Datierung um die Mitte des 13. Jhs.: Bissexcentenus fuit annus bisque tritenus Quartus. dissueta cum fulsit stella cometa Portenti tetri (?) monstrans ad vincula petri. Aut famis aut belli pestis regnique nouelli. Daneben schreibt eine spätmittelalterliche Hand die mutmassliche Auflösung der Jahrzahl 1264. Passim Marginalien desselben im laufenden Text.
Buchschmuck: 1-2-zeilige, in den gotischen Ergänzungen auch grössere, rote Init., rubriziert.
Einband:
Einband 18. Jh., Pergament auf Karton mit Streicheisenlinien, grüne Hanf-Schliessbänder, papierener Vorsatz.
Inhaltsangabe:
-
1-601
Martyrologium
- (1-2) [Prologus.] Ado peccator. Lectori salutem. Ne putes me in hoc opere in uacuum laborasse et rem non necessariam executum fuisse …
- (2-601) [Textus] Popvlvs christianus memorias martyrum religiosa solempnitate concelebrat …–… ad eius tumbam miracula creberrime fiunt. >Finit.<
Die Marginalien einer ersten, zeitgenössischen Hand zum Haupttext betreffen die oben erwähnten Nachträge der St. Galler und Konstanzer Heiligen, interessanterweise findet sich (589) auch die elsässische Ottilia nachgetragen.Textgeschichte: CALMA, p. 30-36, mit unserer Hs. p. 33, Lit. p. 34; PL 123, col. 145-420; jetzt neu als Basistext nach der Ed. Dubois/Renaud, Martyrologe d'Adon (1984), ohne Hss.: « Le nombre des mss., dont certains sont dans des bibliotheques peu accessibles, ne laissa pas d'espoir de realiser rapidement une edition critique » (p. XII). Vgl. auch Jacques Dubois, L'oeuvre de dom Henri Quentin, in: Anal. Boll. 103, 1985, p. 167-176. S. Cod. 454, mit weiterer Lit.
Erwerb der Handschrift: Der nicht in St. Gallen geschriebene Band kam schon im ausgehenden 11. Jh. dahin
(s. o. Nachtrag der St. Galler Hausheiligen); kein Besitzeintrag ausser dem über einen
neumierten Text geschlagenen Stempel D. B. p. 601.
Bibliographie:
- Bruckner, Scriptoria III (1938), p. 106.