St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 914
Bernhard Bischoff, Die Handschrift, in: Regula Benedicti de codice 914 in bibliotheca monasterii S. Galli servato (fol. 1r-86v(85v) = pp. 1-172; saec. IX), hg. von Benedikt Probst, Germain Morin und Ambrogio Amelli. - St. Ottilien 1983, S. XII-XIV.
Titre du manuscrit: Regula S. Benedicti
Période: 1. Drittel d. 9. Jh.
Volume:
136 Blätter
Format: 235-239 x 167-170 mm
Numérotation des pages: Sowohl fehlerhaft paginiert, wie (bis zum Ende der Regel) fehlerhaft foliiert. (Note: Eine genaue Analyse seiner Zusammensetzung bei L. Gilissen, Observations codicologiques sur le codex Sangallensis 914, in: Miscellanea codicologica F. Masai dicata MCMLXXIX edd. P. Cockshaw, M.-C. Garand et P. Jodogne 1 (Publications de Scriptorium 8, Gent 1979), S. 51-70, mit Schriftproben aus allen Teilen.)
Composition des cahiers:
Nur Teil IV ist jünger. Er besteht aus einem Binio (p. 110 /197-117 /217 [204]), der gefaltet war, also erfahrungsgemäß aus einem anderen Ort geschickt wurde
Mise en page:
Der Schriftraum beträgt bei der Regel 167 x ca. 110 mm, die Zahl der Zeilen ist 18.
Type d'écritures et copistes:
- Von diesen Teilen sind I, II und V in schwerer alemannischer Minuskel geschrieben, I und V wahrscheinlich zum größten Teil von derselben Hand. Auch die karolingische Minuskel von Teil III steht noch deutlich unter dem Einfluß dieser Schrift, z. B. in der Form des Buchstaben g. (Note: Teil III (Fig. 12 a-e) wird von Gilissen, S. 65 fälschlich ins X. Jahrhundert gesetzt.)
- Es sind sämtlich Schriften aus dem ersten Drittel des IX. Jahrhunderts.
- Der Text der Regel in seiner klaren, etwas schweren Schrift ist, auf das Ganze gesehen, sehr einheitlich geschrieben, auch wenn sie sich in der Größe nicht gleichbleibt; doch weichen auf fol. 4r (p. 7), Z. 13-18 und, kaum von derselben Hand, auf fol. 74r (p. 149), Z. 12-18 von ihrer Umgebung deutlich ab. Die kleine Schrift der Marginalien stammt im allgemeinen von der Hand des Textes, doch gibt es Ausnahmen, wie das fast kursive ac dicentem auf fol. 3r (p.5).
Sommaire:
Die Handschrift 914 der Stiftsbibliothek St. Gallen (A bei den Editoren) nimmt in der überlieferung der Regula Sancti Benedicti eine hervorragende Stellung ein, seit Ludwig Traube in einer berühmten Abhandlung unumstößlich nachgewiesen hat, daß sie in gerader Linie auf jenes Exemplar zurückgeht, das gegen Ende des VIII. Jahrhunderts in Monte Cassino als Autograph des Heiligen angesehen wurde. (Note: Textgeschichte der Regula S. Benedicti (Abhandlungen der Kgl. Bayer. Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Cl. 21,3, 1898, S. 599-731); 2. Aufl. hrsg. von H. Plenkers (ebd. 25,2, 1910).) Wenn auch diese lokale Tradition heute nicht mehr anerkannt wird, so wird doch dem Text des gewiß sehr alten Codex, der unter Karl dem Großen im Zusammenhang mit den Reformbestrebungen Benedikts von Aniane in die Textüberlieferung eindrang, eine große Bedeutung beigemessen. Er besteht aus fünf Teilen, deren Inhalt hier kurz verzeichnet ist. (Note: Ausführliche Inhaltsangabe: J. Neufville, La Règle de Saint Benoît, 3. Instruments pour l'étude de la tradition manuscrite (Paris 1972), S. 391; Gilissen, S. 58f.)
- I. p. 1-172 Regula S. Benedicti (= fol. 1-24, 24-85); das letzte Blatt ist abgeschnitten.
- II. 173 (86)-180 (93) Epistola ad regem Karolum (Begleitbrief zur Cassineser Abschrift)
- III. 181 (94)-196 (109) Capitula Aquisgrani A.D. 817 data, etc.
- IV.
Siehe unten.
p. 197 (110)-202 (115) Reformkapitel und aus Monte Cassino. Diese wurden etwa in der Mitte des IX. Jahrhunderts geschrieben. Auf den zweieinhalb Seiten, die leergeblieben waren (bis p. 217 (117)) und einer weiteren Lage (p. 218 (118) - 233 (133)) sind der Brief Grimalds und Tattos an Reginbert und, nach kleineren Texten, der zweite anonyme Brief derselben ad Auuam etwa am Ende des IX. Jahrhunderts hinzugefügt. Der Brief an Reginbert beginnt mit einer großen Initiale im St. Galler Stil. (Note: Auch die Schriften von Teil IV (Fig. 12 f-g; 13; 14) sind von Gilissen, S. 65 in die Mitte des X. Jahrhunderts datiert.) - V. p. 234 (134) - 285 (185) Martyrologium, Kalendarium
Origine du manuscrit:
- Einen Band, der die Texte der Teile I, II, III und V in der gleichen Reihenfolge enthielt, hat der Reichenauer Bibliothekar Reginbert in dem zwischen 835 und 842 verfaßten Verzeichnis der Bücher, die er selbst geschrieben oder deren Herstellung er veranlaßt hatte, und jener, die ihm geschenkt worden waren, mit folgenden Worten beschrieben: In XX. libello est regula sancti Benedicti abbatis (I) et hymni Ambrosiani et epistola ad Karolum de monasterio sancti Benedicti directa (II) et capitulares de statu regulae (III) et martyrologium per anni circulum (V), quem Tatto et Crimolt mihi condonaverunt (Note: P. Lehmann, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz 1 (München 1918), S. 260, 20-24. Das von Ziegelbauer überlieferte capitulares ist nach einem Vorschlag von Traube in capitula et responsa verändert. Auch in der kürzeren Beschreibung des Reichenauer Katalogs von 821/822: Regula sancti Benedicti, hymni Ambrosiani in codice I (ebd., S. 251,4) ist die Handschrift vielleicht wiederzuerkennen.); nur die ambrosianischen Hymnen fehlen im Sangallensis.
- Die Reichenauer Mönche Grimald und Tatto, die später beide hervorragende Stellungen einnahmen, hatten sich um 817 in Cornelimünster bei Aachen (Inda), dem Kloster Benedikts von Aniane, aufgehalten, um dort die Reform kennenzulernen. Auf Wunsch ihres 'Lehrers' Reginbert nahmen sie in dieser Zeit eine sorgfältige Abschrift jenes Codex der Regel vor, der für Karl den Großen in Monte Cassino nach dem dort für eigenhändig gehaltenen Exemplar abgeschrieben worden war; mit einem Cursus hymnorum als Anhang und einem von Paulus Diaconus verfaßten Brief (II) war er dem König geschickt worden, an dessen Hof er nun wie die 'Normalexemplare' für die Liturgie und das Kirchenrecht aufbewahrt wurde.
- In ihrem eigenen Brief (Note: Mon. Germ. Hist., Epistolae 5, S. 302. Er ist nicht in einer gleichzeitigen Kopie, sondern nur in der Reihe der Reformtexte in Teil IV erhalten.), der die Sendung ihrer Abschrift an Reginbert begleitete, gaben Grimald und Tatto Bericht von ihrer Arbeit. Sie bezeugen, daß sie silben- und buchstabengetreu den echten Text des heiligen Benedikt kopiert haben. Dann kommen sie auf ihre Textvergleichung zu sprechen. Wo Benedikt etwas von dem als gültig angesehenen grammatischen Gebrauch abweichend nicht in den Text gesetzt hat (secundum artem, sicut nonnulli autumant […] non inseruit), haben sie es aus im Gebrauch befindlichen korrigierten Exemplaren gesammelt (de aliis regulis a modernis correctis magistris colleximus); diese Varianten haben sie an den Rand gesetzt und mit Doppelpunkten auf ihre Textworte bezogen. (Note: Vergleichbar sind interlineare Ergänzungen in dem etwa gleichzeitigen Reichenauer Codex Karlsruhe, Aug. CIII, fol. 185rff. Sie sind auch hier teilweise, wie viele Marginalien der Regel, zwischen Doppelpunkte eingeschlossen.)
- Anderes bei Benedikt Vorhandene, was bei den 'Neuen' fehlt (in neotericis (Note: Geradezu ein karolingisches Modewort; vgl. Novum Glossarium mediae Latinitatis ab anno DCCC usque ad annum MCC, s.v.) minime inventa) haben sie mit einem Obelos und zwei Punkten im Text markiert.
- Ihr Vorbild für diesen Teil der textkritischen Arbeit fanden sie im Psalterium der Vulgata, dem Gallicanum, in dessen Vorrede Hieronymus seinen Gebrauch der kritischen Zeichen (Obelos vor, zwei Punkte hinter dem überschuß des Septuagintatextes) auseinandergesetzt hatte. (Note: Traube, S. 666f. (68f.).) Auf diese Weise ist es ihnen gelungen, gleichzeitig den Text Benedikts und den Text der 'Neuen' darzustellen. Die Handschrift, die besonders in den ersten Kapiteln außer vielen Marginalien viele Beispiele der genannten Zeichen in der einen wie in der anderen Verwendung enthält, illustriert dieses für ihre Zeit einzigartige textkritische Verfahren. (Note: Da die von Hieronymus angewendete Methode überall zugänglich war, erübrigt sich die Annahme, daß sie in der Aachener Vorlage schon Vorgefundenes übernommen hätten (A. Mundó, Corrections 'anciennes' et 'modernes' dans le Sanctgall. 914 de la Règle de Saint Benoît, in: Studia patristica 8 [Berlin 1966], S. 424-435). - Ebenso unbegründet ist der Verdacht, daß der Brief eine spätere Erfindung wäre, die das Prestige des von legendärem Ruhm umstrahlten Regelexemplars erhöhen sollte (Gilissen, S. 64f.).) Damit gibt sie genau jenes Bild wieder, das der Brief Grimalds und Tattos erwarten läßt, und dieser ist ein unverdächtiges Dokument ohne übertreibung der eigenen Leistung.
- Trotzdem kann der Codex nicht die von Grimald und Tatto an Reginbert geschickte Handschrift sein, sondern nur eine Abschrift der Abschrift, wie R. Hanslik mit Irrtümern des Schreibers belegte. Sie wurde nicht lange nach jener Handschrift in St. Gallen angefertigt, was sich mit weiteren Beobachtungen erhärten läßt. Bereits die Unterbrechungen in der Schrift mußten Zweifel aufkommen lassen, ob man es nicht mit mehr als nur einem Schreiber (Grimald oder Tatto?) zu tun habe. Gewichtiger ist folgendes. Wenn die kritischen Zeichen des Hieronymus, besonders der horizontale Strich des Obelos, in einem natürlichen Spatium auf der Zeile zwischen den Buchstaben stehen, können sie nicht bei dem Arbeitsgang der Kollation eingesetzt, sondern nur zusammen mit dem Text abgeschrieben sein (z.B. fol. 4v, 10r, 19r). Diese Art der Schreibung ließe nur den Schluß übrig, daß die beiden Mönche (wenigstens teilweise) in einer Vorstudie die ungewohnte Arbeit erprobt hätten, nach der die Reinschrift angefertigt wurde. Bei der Abschrift im Sangallensis wurden einige der kritischen Einträge mit dem Zeichen nachgetragen (z.B. fol. 51r, 60r), zumal das kritisch bearbeitete Exemplar dazu einlud, neue Varianten hinzuzufügen; denn nicht alle Marginalien stammen von der gleichen Hand (z. B. fol 3r).
- Für den Gebrauch in St. Gallen war das Martyrologium und Kalendarium (V) bestimmt, das wahrscheinlich von demselben Schreiber wie die Regel geschrieben ist. Die erste Schicht der hier eingetragenen Namen des ältesten St. Galler Nekrologiums (Note: - Irrtümlich Mundó, Corrections, S. 426.) einschließlich des Abtes Otmar, ist nur wenig jünger als der Text.
- Ein letztes Argument bietet die Schrift selbst dar: so sehr sich nach unserer bisherigen Kenntnis die schwere alemannische Minuskel der Reichenau (Note: Z.B. in den von Mundó, S. 426, Anm. 2 aufgezählten Handschriften.) und jene St. Gallens gleichen (Note: Vgl. A. Bruckner, Scriptoria medii aevi Helvetica 2 (Genf 1936).), so ist die Reichenau in der Pflege einer kalligraphischen Capitalis und Unziale für Oberschriften dem St. Galler Skriptorium überlegen.
- Der sorgfältig, wenngleich keineswegs fehlerlos geschriebene Regeltext ist noch im Mittelalter durch mancherlei Korrekturen der ungewohnten Orthographie und Rasuren entstellt worden. In der frühen Neuzeit wurden Bibelstellen eingetragen und lateinische und vor allem deutsche Glossen zwischen die Zeilen geschrieben; wie auch andere Teile der Handschrift, wurde sie auf das respektloseste durch grobe Zeichnungen verunstaltet.
Bibliographie:
- Ausführliche Inhaltsangabe: J. Neufville, La Règle de Saint Benoît, 3 Instruments pour l'étude de la tradition manuscrite (Paris 1972), S. 391
- Ludwig Traube: Abhandlungen der Kgl. Bayer. Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Cl. 21, 3, 1898, S. 599-731; 2. Aufl. hrsg. von H. Plenkers (ebd. 25, 2, 1910)
- L. Gilissen, Observations codicologiques sur le codex Sangallensis 914, in: Miscellanea codicologica F. Masai dicata MCMLXXXIX edd. P. Cockshaw, M.-C. Garand et P. Jodogne 1 (Publications de Scriptorium 8, Gent 1979), S. 51- 70. Ausführliche Inhaltsangabe: S. 58f.
- J. Neufville, L'authenticité de L'Epistola ad regem Karolum de monasterio sancti Benedicti directa et a Paulo dictata, in: Studia Monastica 13 (1971), S. 295-309.
- E. Dümmler - H. Wartmann, St. Galler Todtenbuch und Verbrüderungen, in: Mittheilungen zur vaterländischen Geschichte, N. F. 1 (11, St. Gallen 1869), S. 7f. und 25-28.
- J. Wollasch, Zu den Anfängen liturgischen Gedenkens an Personen und Personengruppen in den Bodenseeklöstern, in: Freiburger Diözesanarchiv 100 (1980), S. 69ff.
- Benedicti Regula, ed. alt. emend., rec. R Hanslik (CSEL LXXV, Wien 1977), S. XXVff.
- A. Mundó, Corrections 'anciennes' et 'modernes' dans le Sanctgall. 914 de la Règle de Saint Benoît, in: Studia patristica 8 [Berlin 1966], S. 424-435
- J. Autenrieth, Der Codex Sangallensis 915. Ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Kapiteloffiziumsbücher, in: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift für Otto Herding zum 65. Geburtstag (Stuttgart 1977), S. 42-55.