Mulhouse, Bibliothèque municipale, AW 1
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Euw Anton von, Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, Band I: Textband, St Gallen 2008 (Monasterium Sancti Galli, Bd. 3), S. 480-483.

Manuscript title: Evangelistar
Place of origin: St. Gallen
Date of origin: Mitte d. 10. Jh.
Catalogue number: 135
Extent: 144 Bll. + 2 Vorsatzbll. A + B
Format: 23,5 × 15,5 cm
Collation: Zumeist Quaternionen (Lagen bei von Scarpatetti 1997, S. 15)
Page layout: Schriftspiegel 19 × 12 cm, einspaltig zu 26 Zeilen.
Writing and hands: Karolingische Minuskel von einem Hauptschreiber, der auch illuminiert.
Decoration: Titel sowie Lektionsdaten in Capitalis, Uncialis und Rustica mit Minium. Initialen in Gold, Silber und Minium, fortlaufende Zeilen fol. 7v und 98v als Initiälchen in Gold, sonst in Capitalis, Uncialis und Rustica mit Minium und Tinte, Titelseite fol. 7v in Uncialis mit Minium, golden schattiert.
Contents:
Inhalt (andeutungsweise) und Schmuck:
  • Ar leer
  • Av (oben) II idus iulii facta est maxima cedes grecorum et sarrazenorum ab imperatore Ottone secundo in kalabria deo vincente. Es handelt sich um die Niederlage Ottos II. in der Sarazenenschlacht des 13. Juli 982 am Capo Colonna bei Cotrone. Der Eintrag stammt wahrscheinlich von der Hand Bischofs Erkanbald von Straßburg (965–991), der jedoch den Kaiser nicht nach Italien begleitete, sondern wohl eine gefälschte Nachricht vom Ausgang der Schlacht erhielt, bei der Gott den Sieg nicht dem Kaiser, sondern den Sarazenen verlieh
  • Br Marcha Argentinensis aeclesie, mehrzeiliges Besitzverzeichnis der Münsterkirche von Straßburg mit Flurnamen und Namen der Bewohner (nach Stettiner, S. 104, 10. Jh. – Text bei Schmidt, S. 38 f.)
  • Bv [Dv] Kleines Reliquienverzeichnis, Reliquie de vestimentis Petri et Pauli, de digito sancti Leodegari mart. De beato Nicholao confessore. Dens Apincie virg. (wohl 13. Jh.)
  • 1r leer
  • 1v-5r Comes für das Proprium de sanctis. >In natale sci. Silvestri.< Homo quidam peregre proficiscens. R.Q. In natale sacerdotum …–… >De sco. Thoma ap.< Hoc est praeceptum meum. R.Q. In nat. aplor. im Verzeichnis enthalten sind die Abbreviationes der Evangelienperikopen für die Vigil, das Fest und die Oktav der hll. Gallus und Otmar sowie der Feste für die irischen hll. Brigida, Columba und Patrick (vgl. Schmidt, S. 40)
  • 5v-7r leer;
  • 7v-120v Proprium de tempore mit einigen in die Wochen nach Pfingsten eingestreuten Heiligenfesten
    • (7v) Titelseite mit ganzseitiger Initiale >I(n nomine Dni. incipiunt lectiones evangeliorum per anni circulum legende. In vigilia natalis Dni. ad nonam seq. sci. ev. sec. Matheum. In illo tempore)<, mit Gold und Minium, in der Mitte des Buchstabenkörpers ausbuchtendes Medaillon mit dem Brustbild des bärtigen Christus in Federzeichnung mit Minium und brauner Tinte, Augen und Haare grünlich, die erste Zeile (I)N NO(MINE) als Initiälchen mit feinen Linienranken und goldenem Blattwerk, nachfolgender Text in Capitalis mit Minium, golden schattiert
    • (8r) Initialzierseite CVM (Esset desponsata mater Ihu.), das V und M des CVM von Rankenwerk umgeben im Binnenraum der goldenen Initiale (V silbern), ganzseitig gerahmt mit Blattkandelabern und Akanthusblattfriesen, Ecken quadratisch verstärkt, im Freiraum oben lineares Rankenwerk mit goldenen Blättern
    • (9r) >Mane primo.< P(astores loquebantur) am Schaftende oben ein sich in den Hals beißender Vogelkopf, die gekreuzten Bänder des Bogens beringt.
    • (17v) >Dom. V. p. Theophania< R(espondens Ihs. dixit), als Binnenmotiv Reiher, dessen Hals den Bogen der Initiale umschlingt
    • (31r) >(Dom. II. in Quadragesima) Fer. III.< R(espiciens), Schlange als Abstrich des R
    • (43r) >Dom. in Palmis<
    • (43v) >S(citis quia post biduum)<, sechszeilige Initiale mit eng geflochtenem Mittelknoten
    • (63r) >Sabbato sancto ad Lateranis<
    • (63v) >UE(spere sabbati quae)<, Doppelinitiale ohne Ligatur, die Binnenräume ganz füllendes, eng geflochtenes Rankenwerk mit einzelnen silbernen Blättern
    • (64r) Zierseite >Dom. sca. Paschae M(aria Magdalene et Maria Jacobi et Salome)<, unziales rundes M mit in das Oval eingehängten silbernen Mittelknoten
    • (69r) >(Dom. I. p. oct. Pasche) Fer. II.< A(ccesserunt ad Ihm. discipuli), unziales A mit Hundskopf, dem das Binnenmotiv entwächst
    • (69v) >Dom. II. p. oct. Paschae< d(ixit Ihs. discipulis suis), unziales d mit Hundskopf
    • (70r) (Dom. II. p. oct. Pasche) Fer. VI. E(go lux in mundum), rundes E, aus dem Querbalken greift eine Hand in das innere Band des Buchstabenkörpers (Entdeckung von Landsberger, S. 38)
    • (74r) >In Ascensione Dni.< R(ecumbentibus), oben mit Vogelkopf, dünnes Geflecht
    • (75r) >In vigilia Pentecosten<
    • (75v) >D(ixit Ihs. Data est mihi)<
    • (75v) >Die Dominica in Pentecosten<
    • (76r) S(i quis diligit me), die dünnen Bänder des Buchstabenkörpers werden oben und unten von vegetabil geschmückten Silberschnallen zusammengehalten
    • (79v) >In nat. scor. mart. Nerei et Achillei< A(ccesserunt ad Ihm. Pharisei)
    • (85r) >In vig. sci. Ioh. bapt.< F(uit in diebus Herodis)
    • (85v) >In nat. sci. Ioh. bapt.< D(ixit Zacharias)
    • (98r) I(n decoll. sci. Ioh. bapt. Vidit Herodes Tetrarcha), am Rand korr.: \Misit Herodes require in fine/
    • (98v) >In exortu scae. genitricis Dei Mariae L(iber generationis)<, die Buchstaben (L)IBER GE(NERATIONIS) als Initiälchen in Gold, alles ohne Silber
    • (99r) >Dom. XIIII. p. Pent.< B(eati oculi)
    • (107v) >In dedicatione basilicae sci. Michaelis archangeli< A(ccesserunt discipuli), unziales a, unten mit Hundeleib, der sich nach oben auflöst, Blattende rechts oben und unten
    • (108v) >(Dom. XVIIII. p. Pent.) Fer. IIII< I(n illo temp. Accesserunt discipuli), den Buchstabenkörper bildet ein Reiher, den eine Schlange umwindet
    • (110r) >(Dom. XXma p. Pent.) Fer. IIII.< I(n illo temp. Dicebeat Ihs. cuidam principi), die vegetabile Initiale wächst aus einem Kantharos
    • (113r) >In vig. omnium scorum.< Ego sum vitis vera. R.Q. In vigilia aplor.
    • (113r) >In nat. omnium scorum.< Videns Ihs. turbas. R.Q. In nat. plurimor. scorum.
    • (113r) >Ebd. XXIIII. p. Pent.< A(beuntes Pharisei consilium)
    • (113v) >Ebd. vicesima V. p. Pent.<
    • (114r) L(oquente Ihu. ad turbas. Ecce princeps)
    • (115r) >Incipit de Adventu Dni. Dom. V. ante Nat. Dni.< C(um sublevasset)
    • (120v) >Dom. prima ante Nat. Dni.< M(iserunt Iudei)
  • 121r-122r Wochentagsmessen, teilweise abgekürzt
    • (122r) >Sabbato de sca. Maria.< E(xtollens vocem)
  • 122r-123r Anfang des Proprium de sanctis
    • (122r) >Incipiunt lec. evangeliorum de singulis fest. scor. In vig. s. Andree< S(tabat Iohannes)
  • 123r-133r Commune sanctorum
    • (123r) >In vig. aplorum.< d(ixit Ihs. discipulis suis. Ego sum vitis vera)
  • 133v-134r >In dedicatione ecclesie< N(on est arbor bona)
  • 135r-139r Votivmessen, 135r >In adventu episcopi< Q(uid vobis videtur)
  • 139v-142r Totenmessen, 139v >In vigiliis defunctorum.< Accesserunt ad Ihm. quidam Saduccaeor. Fer. I. p. Pent.
  • 142r-143r Anhang (wohl 11. Jh.)
    • (142r) >In vig. s. Michaelis archang.< D(ixit Ihs. discipulis suis. Sicut fulgur)
    • (142r-142v) >In vig. Simonis et Jude< Q(ui habet mandata mea)
    • (142v-143r) >In decollatione sci. Iohannis bapt.< Misit Herodes
  • 143v leer;
  • Nachsatzbl. 144r Reliquienverzeichnis (Ed. bei Schmidt, S. 35 f. und Bischoff, S. 91 f.)
  • 144v leer.
Origin of the manuscript:
  • Im Gegensatz zu Sang. 53 (Nr. 108) folgt die Hs. einer älteren Vorlage eines Festtagsevangelistars wie Sang. 54 (Nr. 107), in dem das Proprium de tempore in den Pfingstwochen mit einigen Festen des Proprium de sanctis gemischt war. So brauchte dieses Buch für die meisten Heiligenfeste noch ein Proprium de sanctis, das auf fol. 122r mit dem Evangelium zum Fest des Apostels Andreas feierlich eingeleitet, dann aber fol. 123r abgebrochen und mit dem Commune sanctorum sowie den Votiv- und Totenmessen fortgesetzt wurde. Die auf den fol. 1v5r dem ganzen vorgesetzte Abbreviatio lectionum (Comes) wirkt daher wie eine liturgische Notlösung, jedenfalls wie eine nachträgliche Ergänzung, die aber u.a. wegen der Perikopen für Gallus und Otmar durchaus kurzfristig in St. Gallen geschrieben worden sein konnte. Jedenfalls ist die Hs. dadurch «brauchbar».
  • Zeitlich wurde das Mülhausener Evangelistar von der Forschung (außer von Scarpatetti 1997, S. 21) einhellig im 1. Viertel des 10. Jh., das heißt zur Abtszeit Salomos III. (890–920), angesetzt. Eine gründlichere Prüfung erbringt jedoch, dass zwar das Bildrepertoire wie etwa der Kampf des Reihers mit der Schlange am I(n illo) fol. 108v, das Motiv der Hand am E(go) fol. 70r (vgl. Wolfenbüttel, 17.5 Aug. 4°, fol. 54v – Nr. 127) oder die Vogel- und Hundsköpfe einiger Initialen typisch st.gallisch sind, jedoch in der stilistischen Ausführung nicht dem Ende des 9. oder dem Anfang des 10. Jh., sondern dem fortgeschrittenen 10. Jh. angehörten. Merkmale dafür sind sowohl die breit auseinandergezogene, dünne Lineatur der Buchstabenkörper als auch das Blattwerk und die zoomorphen Formen, die gegenüber den Hss. des 9. Jh. zurückgebildet sind und organisch verkümmern. Die lineare Gleichheit zwischen Buchstabenkörper und Beiwerk wird zum Prinzip. Im Hinblick auf die hoch-ottonischen St. Galler Hss. wie Rom, Barb. lat. 711 (Nr. 145) ist diese Stilentwicklung in St. Gallen um 950 anzusetzen. Sie geht derjenigen der Reichenauer Hss. der Anno-Gruppe unmittelbar voraus. So liegt es nahe, im Schreiber und Illuminator des Mülhausener Evangelistars einen Schüler aus der Spätzeit Sintrams zu sehen, der nach dem Ungarneinfall 926 und dem Klosterbrand 937 die alte künstlerische Tradition in das Zeitalter Ottos I. (936–973) hinüber rettete.
Provenance of the manuscript: Die Hs. enthält auf fol. Br die «Marcha Argentinensis aecclesiae», deren Eintrag wohl noch aus dem 10. Jh. stammt und ein Indiz dafür abgibt, dass sie dem Straßburger Münster als Bischofskirche gehörte. Das Folium Av enthält sogar mit der Notiz zum vermeintlichen Sieg Ottos II. (973–983) über die Sarazenen bei Cotrone am 13. Juli 982, wie zuletzt wieder Berschin zeigte, ein Autograph Bischofs Erkanbald von Straßburg (965–991), dem die Hs. im Jahre 982 gehört haben muss. Wenn Hoffmann (2004, S. 285) diese Hand mit einem St. Galler Schreiber identifiziert, liegt schliesslich die Folgerung nahe, Erkanbald sei ein Schüler St. Gallens gewesen (so auch Schaab, Mönch in St. Gallen, Nr. 82, S. 172–173). Schon Stettiner (S. 97 f.) war der Ansicht, Erkanbald habe die Handschrift (zusammen mit dem Berner Prudentius- Codex 264) beim Besuch der kaiserlichen Familie am 14. August 972 in St. Gallen erworben (vgl. Nr. 123 und 133). Dieser Hypothese ist zuzustimmen (vgl. Stettiner, S. 99–102). Es ist wahrscheinlich, dass Erkanbald im Gefolge der kaiserlichen Familie die Hochzeit Ottos II. und der byzantinischen Prinzessin Theophanu († 991) am 14. April 972 in Rom miterlebte, in deren Gesellschaft auf der Rückreise St. Gallen besuchte und dort die Hs. erwarb. Später kam sie wohl zusammen mit dem Prudentius-Codex 264, Burgerbibliothek Bern, in den Besitz des Straßburger Humanisten Jacques Bongars (1554–1612). Wann das Buch Frankreich erreichte, ist nicht bekannt.
Acquisition of the manuscript: Mit der Versteigerung der Bibliothek von Armand Firmin- Didot, Paris 1882 (Cat. Nr. 6), gelangte es für 4’000 Franken in den Besitz des Mülhausener Sammlers Armand Weiss und ging 1893 in das Eigentum der Société Industrielle zu Mulhouse über.
Bibliography:
  • Catalogue illustré des livres précieux, manuscrits et imprimés faisant partie de la bibliothèque de M. A. Firmin-Didot, Paris 1882, Nr. 6.
  • Charles Schmidt, Notice sur un manuscrit du dixième siècle qui jadis a fait partie de la Bibliothèque de la Cathédrale de Strasbourg, in: Bulletin de la Société pour la conservation des monuments historiques d’Alsace 2, 12, 1881–1884, S. 34–42.
  • Richard Stettiner, Die illustrierten Prudentiushandschriften, Berlin 1895, S. 96–105.
  • Dom G. de Dartein, L’Évangéliaire d’Erkanbold, évêque de Strasbourg, Xe s., in: Revue d’Alsace 1906, S. 82, 269, 418, 541.
  • Merton, S. 53, Taf. XLVI.
  • Landsberger, Folchart-Psalter, S. 21 f., 23 ff., 33, 38.
  • Mittelalterliche Schatzverzeichnisse. Erster Teil. Von der Zeit Karls des Großen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte in Zusammenarbeit mit Bernhard Bischoff, München 1967, S. 91 f.
  • Florentine Mütherich, in: Kat. Suevia Sacra. Frühe Kunst in Schwaben, Augsburg 1973, Nr. 155, Abb. 143.
  • Beer, Prudentius-Codex 264, S. 34 f.
  • Beat von Scarpatetti, L’Évangéliaire de Mulhouse provenant de St. Gall: Aspects codicologiques et paléographiques. Le rayonnement d’un atelier d’écriture au Xe siècle, in: L’abbaye de Saint-Gall et l’Alsace au haut moyen âge. Actes des journées de Colmar 23–25 juin 1994 réunis par Jean-Luc Eichenlaub et Werner Vogler, Colmar 1997, S. 15–25.
  • Anton von Euw, Das Evangelistar der Industriellen Gesellschaft in Mülhausen, in: L’abbaye de Saint-Gall et l’Alsace, loc. cit., S. 27–41, Abb. 1–8.
  • Walter Berschin, Erkanbald de Strasbourg (965–991), in: L’abbaye de Saint-Gall et l’Alsace, loc. cit., S. 55–76, bes. S. 58.
  • von Scarpatetti, in: Kloster St. Gallen, S. 56.
  • Hoffmann, Schreibschulen des 10. und 11. Jahrhunderts, S. 285–286.