Trogen, Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, CM Ms. 9

Gamper Rudolf / Weishaupt Matthias (Hrsg.), Sammlung Carl Meyer in der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden in Trogen. Katalog der Handschriften und der Drucke bis 1600, Dietikon-Zürich 2005, S. 38-42, S. 60f. und S. 83-85.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags (Urs Graf Verlag, Dietikon). Das Copyright an der Handschriftenbeschreibung liegt beim Verlag.
Handschriftentitel: Gebetbuch der Anna von Kleve
Entstehungsort: Flandern. Hergestellt für Anna von Kleve, † 1557, Gattin König Heinrichs VIII. von England.
Entstehungszeit: 2. Viertel des 16. Jhs.
Frühere Signatur: Sammlung Carl Meyer, 528
Beschreibstoff: Pergament. Spiegel- und Vorsatzblätter aus Seide, auf das erste und das letzte Pergamentblatt geklebt. Papierblätter und eingelegte Seidentüchlein zum Schutz der Miniaturen.
Umfang: 12 Originalminiaturen und 3 Pasticci
Format: 13,5 x 9-9,5 cm, auf Pergamentblätter (20,5 x 16 cm) geklebt; 3 Pasticci aus ausgeschnittenen Deckfarbeninitialen und Evangelisten- bzw. Heiligenbildern auf Pergamentblättern (20,5 x 16 cm)
Seiteneinrichtung: im 19. Jh. künstlich hergestellt; ursprüngliches Layout nicht mehr ersichtlich.
Buchschmuck: Flandern, Bordüren im Stil der "Gent-Brügge-Schule", Miniaturen Antwerpen (?)
Einband: Mit dunkelviolettem Samt bezogene Holzdeckel, 2. H. 19. Jh.; 2 vergoldete, nach vorn greifende Kantenschließen
Inhaltsangabe:
Der rezeptionsgeschichtlich außergewöhnliche Textträger enthält drei Pasticci aus ausgeschnittenen Deckfarbeninitialen und zwölf flämische Miniaturen aus dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts, die im 19. Jahrhundert auf neuzeitliche Pergamentblätter aufgeklebt und gerahmt worden sind, sodass sich die einzelnen Bildseiten heute wie Gemälde in einem Passe-Partout präsentieren. Die Miniaturen sind einem Gebetbuch aus dem persönlichen Besitz der Anna von Kleve (1515-1557) entnommen.

  • Die Textseiten (niederdeutsche oder niederländische Gebete) sind auf Pergamentblätter des 19. Jahrhunderts aufgeklebt und nur teilweise lesbar. Bildseiten f. 1r-3r (Pasticci): Deckfarbeninitialen mit Buchstabenkörpern aus Akanthus; in den Binnenfeldern Tiere, Blumen, Kleinodien und Wappen auf farbigen Gründen in Gold, Grün, Blau, Rosa, Rot und Grau sowie Miniaturen in Deckfarbenmalerei, im 19. Jahrhundert in Architekturimitationsrahmen eingefügt. Bildseiten f. 4r-15r: Miniaturen mit reichen Trompe-l'oeil-Bordüren, auf den Pergamentblättern des 19. Jahrhunderts von einfachen linearen Rahmen in Schwarz und Gold eingefasst.
    • f. 1r Pasticcio aus 6 verschiedenen ausgeschnittenen Deckfarbeninitialen
    • f. 2r Pasticcio aus 16 verschiedenen ausgeschnittenen Deckfarbeninitialen, zum Teil mit Monogramm AC
    • f. 3r Pasticcio mit kleinen, rechteckigen Darstellungen der vier Evangelisten und zweier Heiliger (Paulus und Johannes Ev.?)
    • f. 4r Miniatur 1: Verkündigung an Maria (Monogramm AC in Bordüre)
    • f. 5r Miniatur 2: Heimsuchung Marias
    • f. 6r Miniatur 3: Geburt Christi
    • f. 7r Miniatur 4: Verkündigung an die Hirten
    • f. 8r Miniatur 5: Anbetung der Drei Könige
    • f. 9r Miniatur 6: Darbringung im Tempel
    • f. 10r Miniatur 7: Flucht nach Ägypten
    • f. 11r Miniatur 8: Kreuzigung Christi
    • f. 12r Miniatur 9: Krönung von Maria (Monogramm AC in Bordüre; Putto mit Wappenschild der Tudor [Heinrich VIII.], Geviert von drei goldenen Lilien auf Blau und drei roten Panthern auf Gold, sowie der Herzöge von Kleve mit acht goldenen Lilienhaspeln auf Rot)
    • f. 13r Miniatur 10: Darstellung der Trinität unter Baldachin
    • f. 14r Miniatur 11: Betender König David
    • f. 15r Miniatur 12: Begräbnisszene auf einem Friedhof vor der Kirche (Monogramm AC in Bordüre)
Entstehung der Handschrift:
  • Als 'Gebetbuch der Anna von Kleve' wurde im Verkaufskatalog von 1937 des Antiquariats Gilhofer & Ranschburg in Wien die Handschrift CM Ms. 9 bezeichnet, deren außergewöhnliche heutige Präsentationsform in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden sein dürfte. Zwölf flämische Miniaturen aus dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts sind auf neuzeitliche Pergamentblätter aufgeklebt und mit dünnen braunen Strichen und einer schmalen goldenen Leiste so umfasst worden, dass sich die einzelnen Bildseiten heute wie Gemälde in einem Passe-Partout präsentieren. Die auf der verso-Seite der Miniaturen niedergeschriebenen volkssprachlichen Gebetstexte zeichnen sich rückseitig nur schwach durch das neue Pergament ab. Vorangestellt sind drei Seiten, auf denen Fragmente aus dem ursprünglichen Gebetbuch collageartig zusammengeklebt und in breite, architektonisch gestaltete farbige Rahmen so elegant integriert sind, dass die Schnittstellen erst bei genauem Hinsehen erkennbar werden. Zusammengestellt sind hier auf zwei Seiten ausschließlich Initialen des illusionistischen flämischen Typs, nach ihrer Größe zu Tafeln zusammengeordnet. Auf dem dritten Blatt sind kleine, rechteckige Darstellungen der vier Evangelisten und zweier Heiliger übereinander präsentiert und architektonisch gefasst worden, als handle es sich um eine Retabelfront mit Sockel, Renaissance-Ornamentik und bekrönendem Abschluss. Die 15 Pergamentblätter sind in zwei Deckel eingebunden, die mit dunkelviolettem, damastartigem Stoff umhüllt sind und von Metallschließen zusammengehalten werden.
  • Aus einem Stundenbuch mit einer für die flämische Buchmalerei des beginnenden 16. Jahrhunderts typischen Ausstattung wurde folglich, wohl im ausgehenden 19. Jahrhundert, ein Kunst-Album für einen ambitiösen Liebhaber und Sammler gefertigt, und im Rahmen dieser Umordnung wurden alle Textelemente des Buches eliminert. Die Handschrift wurde zerteilt, sämtliche Schmuckseiten samt Bordüren herausgetrennt, die kleinen Miniaturen und die mit Deckfarben geschmückten Initialen sorgfältig herausgeschnitten und neuartig zusammengeklebt. Dies ist eine Form des Umgangs mit mittelalterlicher Kunst, die aus heutiger Sicht barbarisch und zerstörerisch erscheint, weil sie Buchschmuck und Buchinhalt unwiderbringlich zerteilt und die Spuren der ursprünglichen Verwendung wie der späteren Buchbesitzer radikal tilgt. In den Augen der Kunsthändler und der Kunstsammler des 19. Jahrhunderts wurde dies aber als Aufwertung verstanden: Indem man die einzelne Miniatur eines anonymen mittelalterlichen Malers aus dem Buchzusammenhang herauslöste und wie ein Tafel- oder Wandbild präsentierte, gab man diesen Werken den Charakter von Kunstwerken großer Meister. Montagen wie diese sind heute nur noch selten erhalten, da sie im Laufe des 20. Jahrhunderts wenn möglich rückgängig gemacht wurden. Aus kulturhistorischer Sicht kommt daher dem heutigen Erscheinungsbild des Stundenbuches ein hoher Wert zu, dokumentiert es doch einen typischen Umgang des späten 19. Jahrhunderts mit einem mittelalterlichen illuminierten Buch. Das ursprüngliche Aussehen und die Zusammensetzung des Stundenbuches lässt sich aufgrund der Sujets der Miniaturen und der auf den Rückseiten der Bilder noch knapp durchscheinenden Textfragmente rekonstruieren. Das niederdeutsch geschriebene Stundenbuch muss ursprünglich mindestens ein Kalendarium, die Evangelienperikopen, das kleine Marienoffizium, das Offizium des Heiligen Kreuzes und das Totenoffizium enthalten haben. Alle ganzseitigen Miniaturen zu Beginn der Offizien sowie insgesamt 28 figürliche und ornamentale Initialen sind erhalten geblieben. Charakteristisch für die reiche Ausstattung sind die illusionistischen Bordüren der Miniaturen, wie sie seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert in Flandern üblich wurden. Naturgetreu dargestellte, identifizierbare Blumen, Früchte, Tiere, Edelsteine, Schmuckstücke und Pilgerzeichen füllen die Randstreifen und werfen sogar einen Schatten auf den einfarbigen Hintergrund.
  • Mehrfach erscheint in den Bordüren das Monogramm AC, auf f. 12r hält ein Putto zwei Wappenschilder: heraldisch rechts dasjenige des englischen Herrscherhauses der Tudor, links dasjenige der Grafen von Kleve mit den gelben Lilienschwertern auf rotem Grund. Damit beziehen sich Wappen wie Monogramm auf ein bekanntes historisches Ereignis mit ebenso berühmten kunsthistorischen Folgen: die Werbung des englischen Königs Heinrich VIII. (1491-1547) um Anna von Kleve (1515-1557), die Tochter aus dem mächtigen niederrheinischen Herzoghaus von Jülich, Kleve und Berg. Heinrich VIII. suchte nach dem Tode seiner dritten Ehefrau Jane Seymour in ganz Europa nach einer geeigneten Heiratskandidatin, deren Schönheit ihm zusagte, die im richtigen politischen Lager stand und die - angesichts der Scheidung Heinrichs von seiner ersten Frau, Katharina von Aragon, und der Hinrichtung seiner zweiten Gattin, Ann Boleyn, - in eine Ehe einwilligte. Da der habsburgische Kaiser Karl V. mit dem französischen König Franz I. unter der Schirmherrschaft des Papstes einen Waffenstillstand geschlossen hatte, sah Heinrich sich gezwungen, nach Verbündeten im protestantischen Lager Ausschau zu halten. Dabei wurde ihm vor allem durch seinen Minister Thomas Cromwell eine Heirat mit Anna oder Amalia von Kleve empfohlen, und diese wurde von seinen Unterhändlern im Laufe des Jahres 1539 diplomatisch in die Wege geleitet. Um sich zu vergewissern, dass die Kandidatin seinen Schönheitsvorstellungen entsprach, schickte Heinrich im August 1539 seinen Hofmaler, Hans Holbein d. J., nach Düren am Niederrhein, wo er die beiden Töchter Anna und Amalia porträtierte. Heinrich entschied sich für Anna; die Heiratsverhandlungen wurden im Herbst desselben Jahres abgeschlossen, und anfangs Dezember reiste Anna nach London ab, wo sie zu Jahresanfang eintraf. Der König, der ihr inkognito entgegen geritten war, war von ihrem Aussehen maßlos enttäuscht und nur mit Mühe davon zu überzeugen, sie am 6. Januar 1540 dennoch zu heiraten. Bereits im Juli desselben Jahres wurde die Ehe, die gemäß den Aussagen Heinrichs nie vollzogen wurde, wieder geschieden. Anna zog sich mit einer beträchtlichen Abfindung auf einen englischen Landsitz zurück und trug fortan den Titel einer 'Schwester des Königs'. Als sie 1557 verstarb, veranlasste die damalige Königin Mary ein würdiges Begräbnis in Westminster Abbey. In ihrer Grabkapelle zeigen eingetiefte Pfeilerreliefs noch heute das von der Krone überhöhte Monogramm AC und das Wappenschild der Grafen von Kleve, genau wie im Stundenbuch der Sammlung Carl Meyer. Durch Ironie des Schicksals ist somit Anna von Kleve, deren Ehe mit dem englischen König angeblich nie vollzogen wurde, die einzige von Heinrichs sechs Ehefrauen, die in der königlichen Begräbniskirche in Westminster Abbey bestattet wurde.
  • Diese historischen Ereignisse dürften die Fertigstellung des Stundenbuches in die zweite Hälfte des Jahres 1539 datieren - nur zu diesem Zeitpunkt machte eine Anbringung der beiden Wappenschilder, dasjenige des englischen Königs wie das der Grafen von Kleve, Sinn. Ein reich illuminiertes Gebetbuch als Hochzeitsgeschenk ist durchaus üblich. Von wem es der künftigen Königin geschenkt worden ist, ob von ihrem künftigen Gemahl, ihrer eigenen Familie oder von einem der zahlreichen mit den langwierigen Hochzeitsverhandlungen betrauten Diplomaten, wissen wir nicht. Das Buch mit niederdeutschen Gebeten könnte für Anna von Kleve am fremden englischen Hof von einiger Bedeutung gewesen sein, sprach sie doch bei ihrer Ankunft in England nach den verwunderten Berichten der Diplomaten weder Englisch noch Französisch.
  • Die Ausstattung des Stundenbuches ist flämischen Künstlern zuzuschreiben; dafür spricht der Bordürenstil wie die Ikonographie und die Kompositionsschemata der Miniaturen, die in Werken der Antwerpener Manieristen ihre nächsten Verwandten haben. Vielleicht wurde das Buch nicht extra auf Bestellung angefertigt, sondern aus zum Teil schon vorhandenem Bildmaterial zusammengestellt und dann zuletzt mit den Monogrammen und den Wappen für die vorgesehene Benutzerin adaptiert. Den Miniaturen durchaus vergleichbare, aber kompliziertere Kompositionen mit viel mehr Figuren und Nebenszenen finden sich bei den Gemälden der Antwerpener Manieristen, jener Gruppe von meist in Antwerpen ansässigen Malern des beginnenden 16. Jahrhunderts, die italienische Renaissance-Ornamentik mit exquisiten Kostümdarstellungen und figurenreichen szenischen Darstellungen verbinden. Der Maler dieses Stundenbuches hatte von solchen Strömungen Kenntnis: Der Thron auf der Trinitätsdarstellung hat balustradenartige Pfosten, die von weißen Rocailles-Ornamenten umschlossen werden; ein dunkelgrüner, runder Baldachin überfängt ihn. Die Rahmen der Miniaturfelder allerdings rezipieren nicht die modernen, architektonisch gestalteten Bildeinfassungen mit Renaissance-Ornamentik, sondern verwenden die traditionellen illusionistischen Bordüren. Die Verkündigungsminiatur ist eingefasst von einem hellvioletten Rahmenstreifen, auf dem Edelstein- und Perlenschmuck in Form von Ketten, Anhängern und Broschen kunstvoll angeordnet ist; in der linken unteren Ecke erscheint gar eine goldgefasste Pilgermuschel mit dem Monogramm AC. Diese Rahmen sind nicht nur Zeichen der virtuosen Fähigkeiten der Künstler in 'realistischer' Naturnachahmung sowie Hinweise auf Reichtum, Ansehen und Stand der Buchbesitzerin, sondern sie beziehen sich auch auf alte christliche Traditionen, wonach Edelsteine Symbole für das Allerheiligste sind, und somit steigern sie auch die Bedeutung der figürlichen Szenen und bilden im doppelten Sinne eine würdige Rahmung für diese. Um 1540 ist die große Zeit der illuminierten Stundenbücher vorbei, das gedruckte Buch oder der von Hand kolorierte Druck tritt mehrheitlich an ihre Stelle. Hochgestellte Auftraggeber lassen sich aber weiterhin ihre privaten, meist luxuriös ausgestatteten gemalten Stundenbücher herstellen; Anna von Kleves Stundenbuch steht in dieser Tradition. Über das weitere Schicksal ihres Buches wissen wir allerdings gar nichts - es ist nicht einmal nachzuweisen, dass es wirklich in ihre Hände gelangte und von ihr in England benutzt wurde. Der unbekannte Kunsthändler, der im ausgehenden 19. Jahrhundert die Miniaturen herausgetrennt und neu montiert hat, hat damit sämtliche potentielle Hinweise auf den persönlichen Buchgebrauch und die späteren Besitzer unwiderruflich getilgt.
  • Text: Susan Marti
  • (Text mit Anmerkungen in der gedruckten Version des Katalogs.)
Bibliographie:
  • Rudolf Gamper und Matthias Weishaupt (Hrsg.): Sammlung Carl Meyer in der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden in Trogen: Katalog der Handschriften und der Drucke bis 1600. Dietikon-Zürich 2005, S. 38-42, S. 60f. und S. 83-85.
  • Gillhofer & Ranschberg, Katalog 265, Wien 1937, S. 8, Nr. 12 sowie Abb. 7 und 8
  • Annette Baumeister: Illuminierte Handschriften im Besitz der Grafen und Herzöge von Jülich, Kleve und Berg. In: Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer Jülich - Kleve - Berg (Ausstellungskatalog: Kleve, Städtisches Museum Haus Koekkoek. Düsseldorf, Stadtmuseum). Kleve 1984, S. 234-244, mit Abb.
  • Marita A. Panzer: Anna von Kleve (1515-1557); vierte Gemahlin Heinrichs VIII., Königin Januar - Juli 1540. In: Englands Königinnen. Regensburg 2001, S. [47]-54.
  • Retha M. Warnicke: The marrying of Anne of Cleves. Royal protocol in early modern England. Cambridge 2000.